Donnerstag, 31. März 2016

Nochmals Jena

»Ach, schau dir das an, einen Prospekt, den ich im deutschen Pavillon [der Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne, Paris 1937] mitgenommen habe.«
Bourrelier liest ihn laut:
»Komitee für die deutsch-französische Verständigung. Abteilung Tourismus. Die napoleonischen Schlachtfelder in Deutschland zu ermäßigten Preisen in luxuriösen Autobussen. Ausschließlich die französischen Siege: Ulm. Eckmühl. Lützen. Auerstädt. Jena.«
»Das werde ich mir eines Tages leisten«, sagte Valentin. »Das Dumme ist nur, daß mich einzig und allein Jena interessiert.«

(Raymond Queneau, Sonntag des Lebens, Frankfurt am Main 1986, S. 150; siehe auch Jena).

Fenster #2

Montag, der 31. März 2014


[181 / 143]
Und die Brüder heute vor 153 Jahren …
… all dies, was sich hastend vor uns abspielt, vergällt es einem, das Leben ernst zu nehmen. Alles erscheint einem wie ein Spiel auf der Bühne. Menschen und Dinge scheinen an einem vorbei zu defilieren und weder zu handeln noch zu sein. Man ist geneigt, das, was einem widerfährt, das Leben für eine Art Kasperletheater zu halten, bei dem es albern wäre, sich allzusehr dafür zu interessieren, mit Hampelmännern, die kommen und gehen, ohne Persönlichkeit, und Geschehnissen, die nur geschehen, damit die Bühne nicht leer ist. Der Geist, das Herz ermüden davon, berührt zu sein, und nehmen nur noch so viel auf, wie das von zu schnell vorüberziehen der Gegenstände müde gewordene Auge.
Wenn Hans Köberlin die Welt derart, in einem solchen Modus, erlebte, dann ging es ihm gut, denn dann entsprach die Welt dem Marginalen seines eigenen Daseins. Aber wehe, wehe, er nahm das alles, die Politik, die Ökonomie …: diesen ganzen Betrieb ernst …*


* Der Eintrag, den Edmond heute vor 140 Jahren in seinem Journal getätigt hatte, war gleichfalls interessant, in Bezug nämlich auf Hans Köberlins exilbedingte Stimmung des ausgeklappten Rasiermessers …
Dienstag, 31. März – In diesen ersten Frühlingstagen, diesem Weckruf der Sonne, wo die grünen Triebe aus dem Holz der Sträucher sprießen, ist mir unbegreiflich, was für venerische Knospen durch die alten Häute zu dringen versuchen, was für Spermatierchen die alten Felle zwicken. Eine brutale Satyriasis randvoll von schmutzigen Phantasien bricht in einem aus, und das eigene Hirn ist nur noch eine finstere Kammer mit obszönen Halluzinationen. Dann sieht es wirklich so aus, als treibe die primitive Tierhaftigkeit eines Satyrs sein unzüchtiges Wesen im Mann. In der Jugend ist das nicht so: in dieser Zeit ist die körperliche Liebe fast elegisch.
Über all das, worüber sich Edmond sich anscheinend geärgert hatte, über die »brutale Satyriasis randvoll von schmutzigen Phantasien«, über die »obszönen Halluzinationen« und über »die primitive Tierhaftigkeit eines Satyrs«, darüber war Hans Köberlin, erlebte er all das bei sich, erfreut, zeigten diese Erscheinungen ihm doch an, daß er noch lebte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIV [Phase 6 – oder: Sehnsucht], 13. März bis 10. April 2014).