Samstag, 13. Februar 2016

Die Kirche im Dorf lassen

Das Christentum ist der Hauptlieferant des Tourismus.

(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 2010, S. 158).

Donnerstag, der 13. Februar 2014


[135 / 189]
Ein weiterer Tag, wie immer, also wie er ihn gewollt hatte …
Und Edmond hatte heute vor 127 Jahren seine Tischgenossen bei Charpentiers charakterisiert …
Bauër, vom Echo de Paris, ein dicker Sanguiniker, mürrisch, borniert und anständig. Madame Clovis Hugues, eine beängstigende Schönheit, eine mörderische Schönheit, eine Frau, die als Klytaimnestra engagiert gehört. Becque, mit Bürstenschnitt, großen hervortretenden Augen, einer lebhaften, angeregten, scherzhaften Physiognomie, der Kopf eines Sängers im Caféconcert, die Visage eines weinseligen Spaßvogels, die Züge eines Hanswursts auf dem Podest einer Jahrmarktsbude.
Hans Köberlin konnte die Gestalten nach diesen knappen Angaben imaginieren, besonders die potentielle Gattenmörderin, die »mörderische Schönheit« imaginierte er sich sehr detailliert, dabei freilich über die gemachten Angaben hinausgehend …: Brüste und Möse und Schenkel einer mörderischen Frau … Madonna, Body of Evidence (1993)* … das Gesicht einer mörderischen Frau … Da viel Hans Köberlin eine Studie Peter von Matts über literarische Portraits, die nicht den Weg in seine Basisbibliothek gefunden hatte, ein, und aus der einen Passagen, der weniger das Thema betrafen als eine ästhetische Entwicklung, der auch er nachzukommen versuchte (und wir natürlich versuchen): das »Nachdenken über das Erzählen während des Erzählens, Reden über die poetische Arbeit in deren Vollzug selbst …«**


* Ihren Gatten Clovis tötete Jeanne Royannez – die Madame Hugues – nicht, aber 1884 erschoß sie im Justizpalast den Literaten Morin, und sie schaffte es, vom Gericht im darauffolgenden Jahr freigesprochen zu werden.
** Peter von Matt, … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Frankfurt am Main 1989, S. 236f. An dieser Stelle findet sich auch eine berechtigte Kritik an den Kritikern des (post-)modernen Romans, die wir bei unserer Apologie im Prolog hätten anführen können: »Vom Erzähler E. T. A. Hoffmann laufen mehrfache Linien über ein Jahrhundert hinweg zu den modernen Autoren. Zu ihnen gehört die Kultur des Nachdenkens über das Erzählen während des Erzählens, des Redens über die poetische Arbeit in deren Vollzug selbst (…) Damit entdeckt und definiert sich die berichtete Welt als eine konstruierte. Das Erzählen wird von einem Medium, das gesicherte Wirklichkeit vermittelt, zu einer Tätigkeit, in der eingestandenermaßen etwas aufgebaut und angefertigt wird. Was so bei Hoffmann begonnen hat (…), das kann im modernen Erzählen zur großen Konstitutionsregel werden. Da schimmert dann die Tätigkeit des Erzählers nicht nur da und dort in der erzählten Szenerie auf, sondern sie ist ebensosehr durchgezogener Gegenstand des Berichts wie die Geschichte / Fabel / Story selbst. Man pflegt solches ein ›Spiel‹ zu nennen, dort ein romantisches, hier ein avantgardistisches, und unterstellt damit, daß die betreffenden Autoren eines Tages schon wieder zum ›richtigen Erzählen‹ zurückkehren würden. In Wahrheit aber bewegt dieses angebliche Spiel meist der höhere ›Ernst‹ als die richtig und tüchtig erzählten Schicksalsläufe nach vertrauten Mustern. Das ›soli-de Erzählen‹, wie es eine zwischen Treuherzigkeit und Arroganz schwebende Kritik und eine mit den ›berechtigten Wünschen unserer Leser‹ vertraute Verlegerschaft fordern und fördern, ist in Wahrheit dem mechanistischen ›Spiel‹ näher, als es selbst je zugeben würde. Denn es operiert mit längst ausprobierten Erzählmustern und gewinnt seine Effekte allein über das ungewohnte Zusammensetzen gewohnter Teile.« (ebd.). Das war als es geschrieben wurde, nämlich im Jahre 1983, bereits ein alter Hut, und es ist bedenklich, daß man es gut 30 Jahre später immer noch zitieren muß.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).