Freitag, 29. Januar 2016

Mittwoch, der 29. Januar 2014


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Das Ithaka-Kapitel warf in einigen Passagen kein sonderlich gutes Licht auf Mr Bloom, indem es seine bildungsbürgerlichen Marotten in den Vordergrund stellte. Und dann sang Stephen dieses antisemitische Lied, was Bloom traurig stimmte, das hieß: weniger das Lied selber, als daß es Stephen war, der es sang, wozu er aber schwieg, während seine Gedanken von der den Christenjungen schlachtenden jüdischen Tochter aus dem Lied zu seiner Tochter abschweiften … wie er ihr die Uhr erklärt hatte …: »the translation in terms of human or social regulation of the various positions clockwise of movable indicators on an unmoving dial …« Hans Castorp war bei seinen müßigen Spekulationen auf dem Zauberberg auf das Phänomen gestoßen, daß man an einer Bewegung im Raum die Zeit ablas … Dabei fiel Hans Köberlin ein, was er neulich bei Lichtenberg gelesen hatte: »Wenn die Menschen nicht nach den Uhren gehen, so fangen endlich die Uhren an nach den Menschen zu gehen.« Früher, so spekulierte nun seinerseits Hans Köberlin, früher waren die Menschen nach der äußeren Notwendigkeit gegangen, mit der Uhr dann hatten sie sich ihre eigene, selbstgemachte (eigentlich unnötige?) Notwendigkeit gemacht, das hieß: die einen hatten diese Notwendigkeit gesetzt, um von der Regulation der anderen zu profitieren. Und wieder fiel ihm Thomas Mann ein: der kleine Hanno Buddenbrook und die Ammen-Uhr …* Die Tatsache allein schon, daß es Uhren gab, hatte zur Folge, daß die Menschen nach ihnen gehen mußten, eine Uhr, die nach dem Menschen ginge, wäre eine contradictio in adiecto.** Die globale Synchronisation … Andererseits erinnerte sich Hans Köberlin, wie er sich nach dem ersten Abschied von der Frau in der Stadt von Roberto Bolaños Exil auf Sants Estació über den hiesigen Regionalismus, der die Ursache dafür war, daß der Beamte an dem Informationsschalter ihm keine genauen Reisezeiten für die autonome Region an der weißen Küste hatte geben können, geärgert hatte …


* Achim von Arnim und Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, Studienausgabe, hrsg. von Heinz Rölleke, Stuttgart u. a. 1979, Bd. 3, S. 298:
Der Wind, der weht,
Der Hahn, der kräht,
Die Glock schlägt drei,
Der Fuhrmann hebt sich von der Streu.
Vgl. auch vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 382f.
** »Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich daß schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ›Von mir willst Du den Weg erfahren?‹ ›Ja‹ sagte ich ›da ich ihn selbst nicht finden kann‹ ›Gibs auf, gibs auf‹ sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.« (Franz Kafka, Ein Kommentar; oder: Gibs auf, wie Max Brod diese Prosastück betitelt hatte).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).