Sonntag, 20. Dezember 2015

Freitag, der 20. Dezember 2013


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Der Bus war bloß mäßig besetzt, Hans Köberlin versuchte zu lesen, war aber zu unkonzentriert für den surrealistischen Kram, den Breton da versammelt hatte. Benjamin hatte etwas über den »Sürrealismus«, wie es bei ihm hieß, geschrieben. Vielleicht einmal zwischendurch …*
Er erreichte eine Stunde vor der angekündigten Landung den Aeropuerto, mit Ausstieg und Warten an der Gepäckausgabe also etwa noch eineinhalb Stunden, davon 30 Minuten vor dem Ausgang stehen, denn es könnte ja alles früher sein …
Es kam ihm, er wußte nicht, wieso jetzt gerade, der tragikomische Gedanke, daß vielleicht wirklich etwas vonstatten ging, draußen in der Welt, und daß die Welt sich tatsächlich zum besseren kehrte (des jungen Marx’ »Reich der Freiheit«), daß aber die sich anbahnenden äußeren Umstände, die ihm ein ihm gemäßes (artgerechtes) Dasein ermöglichen würden (etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen), für ihn ganz knapp zu spät kämen (so wie Reemtsma fast bei Arno Schmidt) … Gérard Genette hatte irgendwo geschrieben, manchmal könne ein Künstler, wie man wisse, die stimulierenden Nachteile des Zwangs den sedativen Kräften der Freiheit vorziehen …
Er setzte sich in eine Bar in der Nähe des Ankunftsbereichs, trank ein kleines Fläschchen Rotwein und beobachtete die Leute um sich herum, Einheimische und welche aus dem Norden in verschiedenen Stadien der Hektik, auch schöne junge Frauen, aber die häßlichen, fetten Alten – »überdies waren die Formen des Körpers etwas über das Üppige heraus verüppigt«, wie dies der verständige Hund Berganza etwas höflicher umschrieben hätte – und die obszön rüstigen Alten und die Prolls überwogen. Kaum ein Mensch, der nicht tätowiert war …


* Hier nur kurz eine schöne Phrase aus Der Sürrealismus: »Alles, womit er (der Sürrealismus) in Berührung kam, integrierte sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und widerflutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ›Sinn‹ kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. Saint-Pol-Roux befestigt, wenn er gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tür ein Schild: Le poète travaille.« (Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 2, S. 296f.) … Hatten wir die letzte Passage nicht bereits einmal zitiert? … … …: ja, hatten wir vgl. oben. Aber »daß für den Groschen ›Sinn‹ kein Spalt mehr übrigblieb«, dies, so nahm er sich vor, würde er sich merken und bei nächster Gelegenheit irgendwo zitieren.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IX [Der zweite Besuch der Frau], 20. Dezember 2013 bis 6. Januar 2014).