Donnerstag, 3. Dezember 2015

Prosit!

Reductio ad absurdum ist eines meiner Lieblingsgetränke.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 291).

Ästhetischer Pantheismus

So banal eine Aussage auch sein mag, so wenig bedeutsam, wie man sie sich in ihren Folgen vorstellt, so schnell, wie man sie nach ihrem Erscheinen auch vergessen kann, so wenig verstanden oder schlecht entziffert, wie man sie annimmt, ist sie doch stets ein Ereignis, das weder die Sprache noch der Sinn völlig erschöpfen können. Ein seltsames Ereignis mit Sicherheit: zunächst, weil sie einerseits mit einem Schriftzug oder mit der Artikulation eines Wortes verbunden ist, aber weil andererseits sie sich selbst gegenüber eine im Feld einer Erinnerung oder in der Materialität der Manuskripte, der Bücher und irgendeiner Form der Aufzeichnung zurückbleibende Existenz eröffnet; dann weil sie einzigartig ist wie jedes Ereignis, aber weil sie der Wiederholung, der Transformation und der Reaktivierung offensteht; schließlich weil sie nicht nur mit Situationen, die sie hervorrufen, und mit Folgen, die sie herbeiführt, sondern gleichzeitig und gemäß einer völlig anderen Modalität mit Aussagen verbunden ist, die ihr voraufgehen und die ihr folgen.
Aber wenn man im Verhältnis zur Sprache und zum Denken die Instanz des Aussageereignisses isoliert, geschieht dies nicht, um eine zahllose Menge von Fakten zu verstreuen. Es geschieht, um sicher zu sein, sie nicht auf Verfahren der Synthese zu beziehen, die rein psychologischer Natur wären (die Absicht des Autors, die Form seines Geistes, die Strenge seines Denkens, die ihn beschäftigenden Themen, das Vorhaben, das seine Existenz durchläuft und ihr Bedeutung gibt), und um andere Formen der Regelmäßigkeit, andere Typen der Beziehung erfassen zu können. Beziehungen der Aussagen untereinander (selbst wenn diese Beziehungen dem Bewußtsein des Autors entgehen; selbst wenn es sich um Aussagen handelt, die nicht den gleichen Autor haben; selbst wenn diese Autoren einander nicht kennen); Beziehungen zwischen so aufgestellten Gruppen von Aussagen (selbst wenn diese Gruppen nicht die gleichen Gebiete oder benachbarte Gebiete treffen; selbst wenn sie nicht das gleiche formale Niveau haben; selbst wenn sie nicht der Ort bestimmbaren Austausches sind); Beziehungen zwischen Aussagen oder Gruppen von Aussagen oder Ereignissen einer ganz anderen (technischen, ökonomischen, sozialen, politischen) Ordnung. Den Raum in seiner Reinheit erscheinen zu lassen, in dem sich die diskursiven Ereignisse entfalten, heißt nicht, zu versuchen, ihn in einer Isolierung wiederherzustellen, die nichts zu überwinden vermöchte; heißt nicht, ihn in sich selbst zu verschließen; es heißt, sich frei zu machen, um in ihm, und außerhalb seiner, Spiele von Beziehungen zu beschreiben.

(Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1990, S. 44f.).

Dienstag, der 3. Dezember 2013


[63 / 261]
Sehr verehrte Damen und Herren,

die ›Methode Godard‹ funktionierte von Anfang an, funktionierte bereits bei einem seiner ersten Kurzfilme. Aus einer Szene dieses Kurzfilms möchte ich im Folgenden die ›Methode Godard‹ ableiten.
1961 wollte Truffaut während einer Überschwemmung auf der Ille de France mit zwei Darstellern etwas improvisieren. Nach zwei Tagen merkte er, daß ihm eine Geschichte fehlte, und er gab auf. Godard ließ sich darauf das Rohmaterial zeigen, montierte es und legte einen Kommentar darüber. Dieser Kommentar beginnt bereits mit dem Titel: es geht nun nicht mehr um eine lokale Überschwemmung, sondern um Un histoire d’eau, was sowohl den kosmologischen Aspekt des Elements ›Wasser‹ evoziert als auch die Tatsache, daß es ›die‹ Geschichte des Wassers nicht gibt. Aber es geht ja auch nicht um das Wasser, es geht, wie immer bei Godard, um eine Frau und einen Mann.
Und so beginnt der Kommentar, der wie der gesamte Text von der jungen Frau aus dem Off gesprochen wird, mit dem simplen Satz: »Ich ging in meinen Garten, / um dort Rosmarin zu pflücken.« Diese Erklärung wird aber sogleich verworfen, und das nicht nur wegen des Wassers, denn die junge Frau möchte nämlich eigentlich nach Paris. Sie schafft es zu einer Landstraße zu kommen und hält ein Auto an, dessen Fahrer natürlich ein junger Mann ist. Die ganze Zeit dann während der Fahrt durch die überschwemmte Region reißt der Off-Kommentar der Frau nicht ab, sie quasselt und quasselt, sie kommt von einem zum anderen, schweift ab, während der Fahrer eindeutige Bemühungen bezüglich der Frau startet … Sie redet über alles mögliche …: »Aragon hielt eine Vorlesung über Petrarca. Hier mache ich die Klammer auf: Alle mißachten Aragon. Ich liebe ihn. Und nun schließe ich die Klammer wieder. Aragon sprach also über Petrarca. Er beginnt mit einer endlosen Lobrede auf Matisse. Nach 45 Minuten ruft ein Student von hinten: ›Zum Thema! Zum Thema!‹ Und Aragon sagt schlicht, daß Petrarcas Genie in der Kunst der Abschweifung besteht.« – »Der Mensch«, das wußte bereits Georg Simmel, »ist, und zwar je höher er kultiviert ist, um so mehr das indirekte Wesen.«
Diese Geschichte von Aragons Vorlesung über Petrarca kommentiert in einer Abschweifung das Prinzip ›Abschweifung‹. Das folgende Statement der Frau, »So wie bei mir.« bestätigt, was man bisher gesehen beziehungsweise gehört hat, man könnte denken, »So wie bei mir.« sei ein Bekenntnis zu dem Prinzip Abschweifung. Aber dann sagt sie: »Ich komme nicht vom Thema ab.« Nimmt man diese Aussage ernst, dann bedeutet ›Abschweifung‹, gerade nicht vom Thema abkommen. Und genau das ist die ›Methode Godard‹: »Das ist mein Thema!« – eine Kritik des Themas ›Thema‹: wider ein angenommenes Wissen, man könnte wissen, was zu einem Thema gehört. Nach einer Aussage Godards erlaubt der Film einem nämlich nicht zu wissen, aber zu sehen, um dann im Nachhinein vielleicht zu wissen. Baudelaires von Godard des öfteren zitierter Imperativ »Dites, qu’aves-vous vu?« aus den Fleurs du Mal wäre also die Voraussetzung jeder Verhandlung der Rezeption. Ein schönes Beispiel dafür ist der Auftrag, den Godard einmal annahm, einen Film über den ›Zustand der Einsamkeit‹ zu drehen – der Zustand der Einsamkeit – l’état de la solitude – der Staat der Einsamkeit. Godard nutzte die doppelte Bedeutung des Wortes ›etat‹, suchte darauf nach dem einsamsten Staat in Europa und machte einen Film über die DDR kurz nach dem Fall der Mauer.
Die Bilder, die Themen, die Sätze, die Wörter, die Buchstaben, alles verliert bei ihm seine Eindeutigkeit und seinen gewohnten Kontext. Die Formen, derer sich Godard bei seiner Methode bedient, sind nicht die des klassischen Kinos, mit seiner geschlossenen Handlung und den unsichtbaren Schnitten, der Illusion einer Realität, sondern Essay, Variation, Tableau, und Kommentar. Wir sehen also hier, bei dem frühen Kurzfilm, bereits die wesentlichen Aspekte der ›Methode Godard‹: Godard evoziert die Polyvalenz eines Themas, von der kosmologischen Elementargeschichte bis hin zu den nicht minder elementaren Beziehungen zwischen Frau und Mann. Thema ist ihm, was er montiert. Als Godard einmal bezüglich seiner aus Zitaten montierten Filmgeschichte gefragt wurde, ob er oft Schwierigkeiten gehabt habe, die richtigen Sequenzen für den Anschluß zu bekommen, antwortete er, wenn er richtigen Sequenzen nicht bekommen habe, habe er eben andere genommen und damit eben eine andere Geschichte erzählt.
Godards Filme sind bereits bei ihrer Entstehung offen. In dem Film, den wir gleich sehen werden, hat Godard dieses Verfahren ins Bild gesetzt: zwei Männer sitzen in einem Café hinter riesigen Bücherstapeln. Es handelt sich um niemand anders als Flauberts Helden Bouvard und Pécuchet, ehemals naiv-autodidaktische Universalgelehrte und nun naiv-geniale Abschreiber. Bouvard greift sich wahllos Bücher aus den Stapeln und liest einen beliebigen Satz daraus vor … aus Lenins Schriften, aus einem Roman von Colette, aus dem Telephonbuch … Und Pécuchet schreibt die Sätze mit. Wir erleben, wie das Drehbuch zu einem Godardfilm entstehen könnte, und die scheinbar beliebig kombinierten Sätze bilden eine mögliche Notwendigkeit.*
Diese scheinbar beliebige Kombination erweckt aber nie den Eindruck einer Beliebigkeit, denn der Kontext entsteht durch die Perspektive. Man muß Perspektiven täglich in seinem Leben wählen. Die Traumfabrik nimmt einem das im Kino ab, Godard jedoch nimmt einem das im Kino nicht ab, man muß das bei ihm auch dort machen, und kann sich nicht einer imaginären Partizipation hingeben, die der Kunst bloß therapeutische oder kompensatorische Funktionen zuweist. Das meinen die beiden Sätze, die Sie am Beginn sahen: »Ich möchte, daß das Kino ein notwendiger Moment des Lebens wäre, und zwar schon so konzipiert.« und »Man müßte eher den Film leben, als aus seinem Leben einen Film zu machen.« »Den Film leben« meint – ähnlich der romantischen Konzeption des Fragments –, den Film als Medium eines Lebens, das ihm seine Form gibt, zu betrachten, was die immanente Reflexion bedeutet, reflektierend die Wirklichkeit erleben, Tag für Tag, die Wirklichkeit nicht verlassen wollen, Gelassenheit nennt man so etwas, was zu keiner Epiphanie führt, sondern zu dem ganz Konkreten, und wenn man Glück hat, zum Glück.
Man muß erst dahin kommen, das ganz Konkrete in toto mit einer Mischung aus Lust und Schrecken als die einzige große Ausnahme betrachten zu können. Daraus ergibt sich, daß die Filme Godards derart komplex sind, daß es keinen Sinn macht, das Strukturprinzip dieser Komplexität nachvollziehen zu wollen oder nach der einen Aussage zu fragen. Der Zuschauer muß der Konstruktion eines Godardfilms mit seiner Konstruktion des Sehens und des Denkens begegnen. Godard macht aus ›der‹ Geschichte eines Gegenstands mögliche Geschichte(n) und daraus resultierend arbeitet er mit dem Prinzip ›Abschweifung‹, oder anders gesagt, er montiert verschiedene Dinge zu einem Kontext. Einer seiner Protagonisten** sagt einmal: »Noch nie hatte Jemand den Mut, die Geschichte der letzten zweihundert Jahre als die Geschichte der Amseln zu schreiben.« Und Godard selbst: »Ich bin immer ausgegangen von einer Idee, die nicht von mir war, weil es anders nicht geht. Heute versuche ich, von gemachten Bildern auszugehen, vor die und an die man dann andere dransetzen kann.«
Und schließlich als letzten Punkt: Bild und Ton (Sprache – = Dialoge und Kommentare –, Geräusche, Musik et cetera) stehen in keinem traditionell notwendigen Zusammenhang, die Notwendigkeit ist das Resultat der Rezeption oder wie Deleuze es formulierte: das Problem des Zuschauers werde nun heißen: ›Was ist auf dem Bild zu sehen?‹ und nicht mehr: ›Was ist auf dem nächsten Bild zu sehen?‹ Wenn hier der Begriff des ›Kommentars‹ fällt, meint das mehr, als die aus dem Off gesprochenen Worte, die die Bilder zu einer Geschichte machen. Was ›Kommentar‹ bei Godard meint, artikuliert Prospero in dem Film Détective, Godards Version von Shakespeares Tempest: »Die Sprache ist der wahre König in unserem armen Land, aber der wahre Fürst ist der Kommentar, er ist es, und nur er allein, der mit seinem scharfen Blick noch etwas in Bewegung setzt.«
Das übliche Kino setzt Geschichten in die Welt, mit einem Anfang, dem Dazwischen und einem Ende. Godard dagegen filmt die Welt oder montiert die Bilder der Welt neu und kommentiert sie damit. Er evoziert unübliche Zusammenhänge. Daß es auch einen visuellen Kommentar gibt, demonstriert Godard in Alphaville, wo es der Kontext ist, der den Bildern kommentierend seine Bedeutung gibt: »Um 24 Uhr 17 ozeanischer Zeit erreichte ich die Außenbezirke von Alphaville.« Aus dem Paris der 60er Jahre wird Alphaville, die Hauptstadt der Galaxis, ohne daß auch nur eine Kulisse aufgestellt werden muß.
Kunst schafft Objekte, und so muß jede Kunstwissenschaft eine empirische Wissenschaft sein, in dem Sinne, daß sie ihrem Objekt verpflichtet ist – das hat sie mit der Liebe gemein. Godard nun schafft Kunst, Filmkunst, indem er mit der Kamera auf bereits vermittelte Objekte zurückgreift, wie immer diese Vermittlung auch aussehen mag. Erst mit ihm ist das Kino das geworden, was in der bildenden Kunst seit der klassischen Moderne selbstverständlich ist: nämlich die Referenz auf sich selbst.
Bevor ich noch kurz etwas zu dem Film sage, den wir gleich sehen werden, möchte ich Ihnen das Ende dieser »Geschichte des Wassers« nicht vorenthalten … Die beiden erreichen schließlich Paris und es kommt wie es kommen muß: »Ich war glücklich. Mit diesem Typ, den ich ›Dreckskerl‹ nannte, als er mich küßte, würde ich wahrscheinlich heute abend schlafen.
In dem Film 2 ou 3 choses que je sais d’elle aus dem Jahr 1967 hat Godard das, was in Un histoire d´eau bereits angelegt war, weiter perfektioniert, was bei ihm heißt: komplexer gemacht. »Elle / La région Parisienne«. Ein Kritiker meinte bei Erscheinen des Films, paradox sei, je mehr Godard sich für zeitgenössische soziale Gegebenheiten interessiere, desto weniger realistisch seien seine Filme. Diese Beobachtung trifft zu, Godards Filme kann man kaum als ›realistisch‹ im üblichen Sinn bezeichnen und sie sind im genauen Sinn des Wortes soziologisch, dies ist jedoch kein Paradox. Godard selbst sagte dazu: »Alles in allem, wenn ich darüber nachdenke, ist ein Film dieser Art etwa so, als wollte ich einen soziologischen Essay schreiben in Form eines Romans und hätte dabei nur Musiknoten zu meiner Verfügung.« Im sogenannten ›Realismus‹*** wird die Kritik zur Affirmation, denn der sogenannte ›Realismus‹ verdoppelt das bestehende Bild der Welt – oder besser: das (Vor)-Urteil über die Welt, und dabei ist es dann egal, ob man das macht, weil man es gut findet oder nicht.
In dem Kommentar zu 2 ou 3 choses que je sais d’elle heißt das: »Ich ersetze die Untersuchung realer Gegenstände durch meine Einbildungskraft.« Es geht also nicht um die filmische Reproduktion von Realität, sondern um die Realität der Bilder und Töne, es geht um die Reproduktion des Films selbst mit seinen produktions- und rezeptionsästhetischen Implikationen. Auch hier gibt es einen Kommentar, diesmal von Godard selbst geflüstert, es gibt die Dialoge der Schauspieler und es gibt die Kommentare der Personen, die die Schauspieler verkörpern. Sie sprechen direkt in die Kamera, über ihr Empfinden über die Situation, in der sie leben und über Dinge. die sie beschäftigen: Sex, Kunst, Geld, Politik et cetera.
Gut aristotelisch hält sich Godard in diesem Film an die Einheit des Ortes – Groß Paris und die Einheit der Zeit – ein Tag, vom Aufwachen … »Die Sprache ist das Haus, in dem der Mensch wohnt.« … bis zum Einschlafen**** … »Mich definieren mit einem Wort: Noch nicht tot sein.« Die eine Protagonistin, die Region Paris, stellt Godard am Anfang in einem Ausschnitt vor, nämlich dem Bild einer Baustelle, von Kameramann Raoul Coutard nach den Regeln des goldenen Schnitts gerahmt. Die andere Protagonistin, stellt er als die Schauspielerin Marina Vlady und in ihrer Rolle als Juliette Jeanson vor.
Kurz etwas zu dem Hintergrund, (ich verlasse mich hier auf Angeben des British Film Institut): 1954, dem Jahr, als Frankreich Vietnam verlor, wurde der Grundstein zu der Trabantenstadt Sarcelles gelegt und 1.000 Wohneinheiten errichtet. Als dann 1962 Algerien seine Unabhängigkeit erlangte, kamen um die 700.000 Kolonisten nach Frankreich zurück. Um sie unterzubringen, wurde unter Zeitdruck eine gewaltige Urbanisierung in Gang gesetzt. 1974, sieben Jahre nach Godards Film, wurde Sarcelles mit 12.000 Wohneinheiten fertiggestellt.
Nun möchte ich Sie noch auf zwei oder drei Dinge aufmerksam machen, die den Stil dieses Films betreffen. Der Tag im Leben der Hausfrau und Gelegenheitsprostituierten Juliette Jeanson wird akustisch akzentuiert durch kurze Sequenzen aus dem Streichquartett in F-Dur op. 135 von Beethoven und optisch durch Kameraschwenks über die Trabentenstadt oder strenge Bildkompositionen, das Bauen an der Stadt, Aufbau und Veränderung, Ton und Stille. Im Kontext zu ihrer Umwelt haben die Menschen den Platz am unteren Bildrand. Was für alle Filme Godards gilt: er arbeitet mit den Farben rot, gelb blau und grün und setzt sie als bewußt als Akzente ein, er arbeitet mit expliziten Zeichen, mit denen unsere Umwelt durchsetzt ist – man lebe quasi in einen gigantischen Comic-Heft, flüstert Godard an einer Stelle – sowie mit Zwischentiteln, die jedoch in der Regel keine Kapitel einleiten, sondern auf bestimmte Aspekte eines möglichen Themas verweisen.
Die berühmteste Szene des Films zeigt Juliette und ihre Freundin bei ihrer Nebentätigkeit als Prostituierte. Ein Kriegsberichterstatter aus Vietnam filmt die beiden nackt, während sie Reisetaschen von Fluggesellschaften über den Kopf gestülpt tragen. Man beachte den Kontrast mit dem Stich im Hintergrund. Hier bündeln sich die Motive: Vietnam, das Frankreich in dem Jahr verlor, als der Bau der Trabantenstadt begann, und die USA, die das Erbe Frankreichs in Indochina antraten. Ökonomie, Prostitution, Fetisch. das Geld des Mannes und der Körper der Frau und natürlich die Kamera.
Zum Schluß möchte ich noch eine Bemerkung zu dem Thema ›Die Moderne auf dem Prüfstand‹ machen. – Die Architektur gilt als das künstlerische Genre, mit dem die Postmoderne begann. Zur Zeit dieses Films ist die Architektur zweifellos noch der Moderne verpflichtet. In der Theorie hatte die Moderne mit dem Strukturalismus ihre wohl avancierte Beschreibung gefunden. Godards Kommentar stellt den Bau der Stadt in einen Kontext mit dem Kapitalismus. Doch der Kapitalismus funktioniert genauso im Kern des historischen Paris, was Godard in den Szenen am Champs Élysées zeigt. Die Kamera zeigt die ästhetischen Reize der Trabantenstadt und zeichnet sie nicht als triste Betonburg. Godard verfällt nicht der naiven Ansicht, 700.000 ehemalige Kolonialisten könnten in Eigenheimen untergebracht werden. Godard agiert poststrukturalistisch und postmodern auf dem Höhepunkt der Moderne. Statt eindimensionaler Kritik, die wie gesagt eine Affirmation mit anderem Gesicht ist, fragt er nach der conditio humana in einer Welt voller Widersprüche, ohne diese Widersprüche aufzulösen. Der große Versuch der Moderne, sich in der Welt rational einzurichten, hat den Menschen unbehaust hinterlassen, das muß nicht schlecht sein. Godard hinterfragt, bietet aber keinen Ausweg, er bietet aber Möglichkeiten einer neuen Einsicht. »Ich suche nichts anderes als die Gründe, warum man glücklich leben kann. Wenn ich die Untersuchung jetzt noch weitertreibe, fände ich, daß unser Leben einfach darauf beruht, daß es zunächst die Erinnerung gibt und dann die Gegenwart, und die Freiheit, sich darin aufzuhalten, um zu genießen. Das heißt, im Vorbeigehen einen Grund des Lebens erfaßt zu haben und ihn für ein paar Sekunden festgehalten zu haben, nachdem er unter einmaligen Umständen entdeckt wurde. Daß die einfachsten Dinge in der Welt des Menschen möglich werden …«
Dies ist nicht viel, ist aber wohl alles, was einem bleibt und worauf es im Leben ankommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit … und nun: 2 ou 3 choses que je sais d’elle.


* Und wir sehen bei dieser Szene Hans Köberlin an Bücherrad und Schreibtisch (… striptease table …).
** Es handelte sich um Paul in Sauve qui peut (la vie) (Anmerk. des Verf.).
*** Am Freitag, dem 19. Dezember 2014, sollte Hans Köberlin bei Georg Seeßlen eine knappe und treffende Definition des sogenannten ›Realismus‹ lesen: »die größte cineastische Illusion« (Georg Seeßlen, Lars von Trier goes Porno. (Nicht nur) über NYMPH()MANIAC, Berlin 2014, S. 17).
**** Hier war Hans Köberlin etwas ungenau: 2 ou 3 choses que je sais d’elle umfaßte den Zeitraum vom Abend bis zur nächsten Nacht.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).