Samstag, 28. November 2015

Vom kleineren Übel

Wie tragisch, nicht an die menschliche Fähigkeit zur Vervollkommnung zu glauben!
– Und wie tragisch, an sie zu glauben!

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 286).

Donnerstag, der 28. November 2013


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Auch an diesem Morgen, nachdem er nach der Aktualisierung des Filmkalenders ein Still aus Max Ophüls’ Adaption der Stefan-Zweig-Novelle Brief einer Unbekannten goutiert hatte, hörte Hans Köberlin während seines Dauerlaufs Cages Indeterminacy, er begann aber diesmal mit dem zweiten Teil, um mit dem Hören weiter als gestern zu kommen. Das hatte den Nebeneffekt – der Cage bestimmt gefallen hätte –, daß es zu einer Art von Phasenverschiebung betreffs des Hörens bestimmter Geschichten und den Orten des Hörens dieser Geschichten kam, weil Hans Köberlin sich beim jeweiligen Hören an die Orte des vormaligen Hörens erinnerte, die spezifische Rezeptionssituation war ihm ja – was einen bei Hans Köberlin sicher nicht wunderte – Teil der Rezeption. So hörte er zum Beispiel heute die Geschichte von Cages Freund mit dem alten Ford, die er gestern an den Stufen zum Strand südlich hinter der Hauptstraße gehört hatte, bereits auf einer der Straßen im Hinterland. Er hörte die Geschichte also aktuell und simultan, quasi als Echo aus der Vergangenheit … Und er sollte sich fürder, wenn er die Rezeptionsorte auch ohne Cage zu hören passierte, an die Cage-Rezeptionssituation während seines Dauerlaufs erinnern.
In einer anderen Geschichte, die Hans Köberlin diesmal überhört hatte oder die sich im ersten, diesmal nicht gehörten Teil befand (der Erinnerung der Rezeptionssituation nach war der erste Fall, also das Überhören, wahrscheinlicher), ging es um ein Mädchen, das in einer schulischen Situation nie ihre Aufgaben erledigte. Als sie gefragt wurde, warum sie das nicht täte, antwortete sie, sie habe keine Zeit dafür gehabt. Was sie denn glaube, so der Lehrer weiter, wie viele Stunden ein Tag habe? – Na, vierundzwanzig. – Nein, so der Lehrer weiter, der Tag habe so viele Stunden, wie man ihm geben würde. – Da war etwas dran, so Hans Köberlin, aber wie bei allen solchen Geschichten mit Klugscheißern: nur etwas, der Hauch einer Metapher, denn der Tag hatte nun einmal bloß vierundzwanzig Stunden, da biß die Maus keinen Faden ab.*
Noch eine andere Geschichte gefiel Hans Köberlin außerordentlich: »Artists talk a lot about freedom«, so Cage, und man gebrauche häufig den Vergleich »free as a bird«,** nun, Morton Feldman habe neulich im Park Vögel beobachtet (»our feathered friends«, nannte sie Cage) und sei zu der Einsicht gekommen: »They’re not free: they’re fighting over bits of food«, eine Erfahrung, die Hans Köberlin auch mit den Spatzen und den Tauben und den Möwen auf der Terrasse der ›Tango Bar‹ machte, und er, Hans Köberlin, war auch nicht frei, denn er mußte seine Nüßchen zum Wein gegen seine gefiederten Freunde, die er eher als seine gefiederten Feinde betrachtete, verteidigen (und natürlich sympathisierte er mit dem Taubenvergifter im Park).
Und wenn Cage von einer Einladung zu einem Essen bei einer indischen Freundin erzählte, zu dem außer ihm noch Dr. Suzuki, Gertrude Stein und James Joyce gekommen,*** da dachte Hans Köberlin: »Ach …!«
Es fielen immer einmal wieder Regentropfen während Hans Köberlins Dauerlauf, er kürzte also seine Route im Zentrum des Ortes ab und kümmerte sich nicht weiter, aber dann, kurz vor dem Peñón de Ifach wurde der Regen sehr heftig, und als er an der cervezeria, in der er vor Wochen (wie vielen?) mit der Frau gesessen und das Judasbier (8,4% vol.) getrunken, vorbeikam, gab es einen derart heftigen Hagelschauer, daß Hans Köberlin sich unterstellen mußte, während Cage von einem Areal mit seltenen Pilzen erzählte, die, als er sie im nächsten Jahr wieder dort sammeln wollte, verschwunden waren, was von den Anwohnern, die ihn als den Sammler wiedererkannten, mit Häme kommentiert worden sei, Dumpfbacken, die kaputtmachen mußten, was über ihren beschränkten Horizont ging; Hans Köberlin hatte diese Geschichte gestern auf der Promenade auf der Höhe der ›Pizzeria Napoli‹ gehört …****


* Wolfgang Neuss zu dem Thema: »Alle Tage sind zwar gleich lang, aber unterschiedlich breit.«
** Lynyrd Skynyrd, Free Bird (1973) …
But, if I stayed here with you, girl
Things just couldn’t be the same
’Cause I’m as free as a bird now
And this bird, you can not change
Oh, oh, oh, oh, oh …
*** Da aber hatte Hans Köberlin nicht aufmerksam zugehört …»An Indian lady invited me to dinner and said Dr. Suzuki would be there. He was. Before dinner I mentioned Gertrude Stein. Suzuki had never heard of her. I described aspects of her work, which he said sounded very interesting. Stimulated, I mentioned James Joyce, whose name was also new to him. At dinner he was unable to eat the curries that were offered, so a few uncooked vegetables and fruits were brought, which he enjoyed. After din-ner the talk turned to metaphysical problems, and there were many questions, for the hostess was a follower of a certain Indian yogi and her guests were more or less equally divided between allegiance to Indian thought and to Japanese thought. About eleven o’clock we were out on the street walking along, and an American lady said, ›How is it, Dr. Suzuki? We spend the evening asking you questions and nothing is decided.‹ Dr. Suzuki smiled and said, ›That’s why I love philosophy; no one wins.‹« (John Cage, Composition as Process; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 41).
**** In Peter Handkes Der große Fall (Berlin 2011, S. 93f.) gab es eine frappant verquer-analoge Szene zu Hans Köberlins Cages Pilzmanie per Ohrstöpsel rezipierende Situation: »Der eine Pilzsucher hatte Musikstöpsel im Ohr, und erklärte, nachdem er die beim Grüßen herausgenommen hatte: Äugen nach Pilzen und Musikhören – vor allem die von John Cage und Morton Feldman – ergänzten einander wie fast nichts sonst. Noch besser zu dem Ausschauhalten nach den Sommerpilzen jetzt passe das Westernlied vom ›Summer Wine‹. Es war ein junger Mensch, der ihm das anvertraute, und der war sich sicher, daß sein Beispiel, mit einem Musikhelm auf ›Pilzjagd‹ – so drückte er sich aus – zu gehen, Schule machen würde. Er habe eine Serie von Artikeln veröffentlicht, was man auf diese Weise alles, und wie zum ersten Mal, erleben könne, nein, nicht in einem Pilzmagazin, im ›Rolling Stone‹, und seitdem wandelten in ganz Europa junge Leute, statt mit dem Scheppern aus ihren Kopfhörern die Mitfahrer in den Zügen und U-Bahnen zu nerven, die Augen still zu Boden gerichtet und ebenso still den wenigen Tontropfen, nur ihnen selber hörbar, lauschend –, das eine Aufmerken gäbe das andere, und umgekehrt, und all die Rauschpilze seien nichts dagegen und prompt aus der Mode gekommen.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).