Freitag, 13. November 2015

Und ob!

Erinnern Sie sich noch an diese ganz speziellen Strumpfbandknöpfe vor der Erfindung der Strumpfhose?

(Padgett Powell, Roman in Fragen, übersetzt von Harry Rowohlt, Berlin 2. Aufl. 2012, S. 11).

Eine weitere Definition

Ein Mythos ist die Beschreibung eines tatsächlichen Ereignisses aus der Perspektive eines Dummkopfs, literarisch bearbeitet von einem Dichter.

(Arkadi & Boris Strugatzki, Das Expriment; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2010, Bd. 2, S. 844).

Mittwoch, der 13. November 2013


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Am Mittwoch, dem 13. November 2013, war auf Hans Köberlins Filmabreißkalender anläßlich Jean Sebergs 75. Geburtstag eine Szene aus À bout de souffle (1960) zu sehen. Über diesen Film gab es – wie oben zu Nouvelle vague (1990) – eigentlich ein paar Worte zu sagen … aber über diesen Film, der erste lange Film von Godard, nach einem Drehbuch von Truffaut, ist bereits so viel gesagt worden … Er bedeutete für das Kino, was 1789 für Europa bedeutet … Damit hatte alles angefangen (im Großen), oft kopiert und nie erreicht, vielbesprochen und mythisiert. Nach dem vor kurzem Durchlebten und nur geradeso Überlebten fand nun auch Hans Köberlin Patricia »vraiment dégueulasse«, ihr kokettes Getue und ihre neurotische Egozentrik.* Michel erzählte Patricia die Geschichte über den Verrat, die er in der Zeitung gelesen hatte, als ahnte er, was ihn von der Frau erwartete … Eine der schönsten Stellen des Films war die Pressekonferenz mit Melville als Parvulesco, bei der Hans Köberlin stets zu der Einsicht kam, daß er nie – was die Weltgewandtheit betraf – so einen heroischen Autor abgegeben hatte. Godard meinte einmal in einem Interview, man würde an seine Jugend denken müssen, wenn man das wiedersähe, er wäre damals allerdings schon dreißig gewesen, ein spätes Debüt … Und Hans Köberlin war es, als schaute er auf eine untergegangene, vielleicht noch offener gewesene Welt. Und Truffaut hatte überliefert, Godard sei damals sehr unglücklich gewesen, Godard räumte ein, nur vorgegeben zu haben es zu sein, denn jeder habe so seine Fehler. Was Hans Köberlin immer wieder bei Filmen Godard auffiel, das waren die gezielten Asozialitäten der Protagonisten. Hier zum Beispiel: die Freundin, die Michel Poiccard um fünftausend Francs anpumpen wollte, meinte zu ihm, sie habe bloß fünfhundert Francs, die sie ihm geben könne. Er lehnte es ab, sie zu nehmen, um sie ihr dann aber zu stehlen. Und es war natürlich immer wieder schön, das Paris jener Zeit (einer vielleicht nicht unbedingt besseren, aber einer, wie gesagt, vermutlich noch offeneren Zeit) in Schwarzweiß zu sehen.


* Borges hatte in La Invención de Morel geschrieben, die Russen und die Schüler der Russen (Hans Köberlin vermutete hier vor allem die Skandinavier) hätten einem bis zum Überdruß vorgeführt, daß nichts unmöglich sei: Selbstmorde aus Übermaß an Glück, Morde aus Nächstenliebe, Personen, die sich so liebten, daß sie sich für immer trennten, Verräter aus Liebe oder Demut …
Und Seeßlen: »Die Ganzheit der weiblichen Seele, wie sie der Film zu entdecken begann, wurde zu einem Rätsel, wie es etwa die Frauengestalten in Jean-Luc Godards Arbeiten (zum Beispiel Jean Seberg in À bout de souffle, oder Anna Karina in seinen folgenden Filmen) verkörperten, eine Entität, die sich, weil nicht in ihre Bestandteile zerlegbar, auch nicht erklären und nicht berechnen läßt und deshalb zu einer Herausforderung wird. Während die Männer in seinen Filmen aus Mustern und Zitaten des Films, der Literatur, der Geschichte zusammengesetzt sind, Ergebnisse vielschichtiger Anpassungs- und Formungsprozesse, sind die Frauen Wesen von einer eigenen Qualität, die sich deshalb auch nicht so anpassen (oder absetzen) können wie die Männer. Die Kind-Frau erhält in Godards Filmen eine gleichsam philosophische Dimension; sie ist ein Motiv für die Bewegung seiner Helden, aber sie bleibt undefinierbar (…) Die Formen in ihrer Kulturlandschaft, in der sie sich wie ein Kind bewegt, werden ihr zum Spielzeug; sie ist freier von den Bindungen an das Milieu als die Männer, und auch Sexualität scheint ihr ein Spiel zu sein. Sie ist, vor allem, ohne Ziel. ›Eine der ersten und bedeutendsten dieser enigmatischen Heidinnen war Jean Seberg in Godards À bout de souffle. Godard seinerseits war beeinflußt von ihrer Darstellung der Cecile in Otto Premingers Verfilmung des Sagan-Romans Bonjour Tristesse (1958). In À bout de souffle ist Seberg der perfekte Ausdruck und Spiegel von Godards ambivalenter Haltung gegenüber Frauen, eine Mischung aus Idealisierung und Misogynie, so intensiv wie bei Charlie Chaplin. Am Ende von Bonjour Tristesse sitzt Jean Seberg, die den Tod der Frau verursacht hat, die ihr Vater liebte, vor einem Spiegel und schaut ausdruckslos auf ihr Bild; sie sieht nichts, sie fühlt nichts. Am Ende von À bout de souffle steht sie neben ihrem sterbenden Geliebten, dem Gangster, den sie an die Polizei verraten hat; sie schaut in den Himmel; sie sieht nichts, sie fühlt nichts. Was das Sexuelle anbelangt, so ist sie eine Hure, aber was die Emotionen betrifft, ist sie eine Jungfrau. Irgend etwas fehlt: das Bewußtsein, eine Seele? Wie die von Anna Karina porträtierte Frau in Le petit soldat (1963) und Bande à part (1964) reizt sie den Helden mit ihrer anscheinenden Ganzheit; sie tut dies ganz naiv und führt ihn in den Untergang. Ihre Seele ist eine tabula rasa mit einer glatten Oberfläche. Nichts bleibt an ihr haften. Sie ist nicht einmal böswillig. Ihre Grausamkeit liegt in ihrer Indifferenz‹ (Molly Haskell).« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 99f.). – Nun, nach dem vor kurzem Durchlebten und nur geradeso Überlebten konnte Hans Köberlin auch dem in gewissem Maße zustimmen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).