Sonntag, 8. November 2015

Über die Quantität der Ewigkeit

… Als wäre zwischen dem Ausbrüten der Idee in meiner Birne und ihrer vernünftigen Formulierung eine Ewigkeit vergangen. Eine kleine Ewigkeit, was noch schlimmer ist. Denn wenn es eine große Ewigkeit oder eine bloße Ewigkeit gewesen wäre, wäre es mir nicht aufgefallen, kannst du mir folgen? So aber fiel es mir allerdings auf, und das verstärkte meine Angst.

(Roberto Bolaño, Kriminalbeamte; in: Telephongespräche, Frankfurt am Main 2. Aufl. 2010; die Ewigkeit ist allerdings eine quantitätslose Qualität und höchstens die totale Quantität).

Soso …

Uli hat mir gestern einen Glückskeks geschenkt:


(siehe auch hier … und warum eigentlich nicht auch: hier …).

Freitag, der 8. November 2013


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Am Freitag, dem 8. November 2013,* verlief Hans Köberlins morgendliches vorfrühstückliches Dauerlaufen und Schwimmen bis über die gelbe Boje hinaus wie gestern und vorvorgestern und wie an dem Morgen davor, also müssen wir dazu nichts sagen … vielleicht höchstens: Hans Köberlin glaubte zu spüren, daß die Wassertemperatur etwas abnahm.
* Die ersten sechs Künste emergierten aus den Notwendigkeiten der Konstitution und des diachronen Überlebens der Gemeinschaft beziehungsweise aus repetitiv-synchronen Ritualen – »die Lehre von dem die Nahrung herabrufenden Gesang«, wie es bei Kafka geheißen hatte –, das Kino aber kam erst, als alle übrigen Künste bereits etabliert waren, es kam vom Rummelplatz und seine Technik von der Artillerie, es machte daraus l’art de la rie. Godard definierte in seinen Histoire(s) du cinéma (1988 – 1998) diesen Punkt, an dem das Kino als Kunst anfing …
sois sûr d´avoir épuisé
tout ce qui se communique
par l´immobilité et le silence
Deleuze traf den Nagel auf den Kopf, wenn er schrieb, es treffe sicher zu, daß sich der schlechte – und manchmal auch der gute – Film entweder mit einem Traumzustand begnüge, der beim Zuschauer hervorgerufen würde, oder auch, wie oft analysiert, mit einer imaginären Partizipation, aber das Wesen des Kinos, das nicht die Allgemeinheit der Filme sei, habe als oberstes Ziel das Denken und nichts anderes als das Denken und seine Funktionsweise.
Godard machte seine Filme stets vor dem Hintergrund des Kinos, das heißt der Filmindustrie. Er machte all seine Filme mit all den Problemen, die ein marginales Publikum in der Branche, die die Massen bedienen will, mit sich brachten, er verzichtete bewußt auf Reservate und Nischen.** Und in der Tatsache, daß Godard seine Kunst im Betrieb machte und dabei dessen Regeln zwar in Frage stellte, ihn, den Betrieb, die Industrie, selber aber nicht in Frage stellte, lag eine Hoffnung auf eine Art der Existenz, die unwahrscheinlich geworden aber vielleicht doch noch möglich war. Für das Kino also, für die Filmindustrie, stellte die Institution Godard – wie außer ihm vielleicht nur noch die Institution Orson Welles, allerdings mit weniger Glück – den Ausnahmezustand dar, die inkludierte Exklusion, man könnte ihn, Godard, also als den Souverän des Kinos bezeichnen. Denn bloß weitere aristotelische Geschichten zu machen, mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, was seit geraumer Zeit nur noch folgenlose Einschlüsse in der Wirklichkeit ergab, war zulässig nur noch für Ertrinkende, denn das Ende konnte nur noch der Tod sein. Denn die Kunst hatte die Geschichten erfunden und die Theologie die Geschichte. Aber die Geschichten, auch wenn sie ästhetisch nicht mehr funktionierten, verschwanden ja nicht, und wie in dem eben gemeinten Sinn beim Kino, so könnte man Godard auch als den Souverän der Geschichten bezeichnen. Es gab also etwas wie Godards audiovisuelle Etymologie, es gab so etwas wie godardsche Knoten … und es gab eine Entwicklung in ihrem Gebrauch, deutlich etwa in der Hinwendung von den Geschichten zu der Geschichte, die nicht mehr im üblichen Sinne erzählt wurde: als er noch eine Geschichte hatte, torpedierte er sie mit Geschichten; seit er an die Geschichte ging, erzählte er Geschichten … Und brauchte man ehemals ein Mädchen und eine Handfeuerwaffe, um einen Film zu machen, so brauchte Godard dazu Bild und Ton (ohne natürlich dabei auf die Mädchen und – gelegentlich – auf die Handfeuerwaffen zu verzichten).
Godard hatte zu Nouvelle vague, dessen Dialoge sämtlich aus Zitaten bestanden, gesagt, jemand habe jemand anderen wiedererkannt, und beide hätten sie die Schwierigkeit in Kauf genommen, den anderen so wiederzuerkennen, wie es ihm passe, so sei es auf der Leinwand, man solle das ruhig einem Untersuchungsrichter – sei er Stalinist oder Amerikaner – zeigen und er werde sagen, genau das sei auf der Leinwand, alles andere sei im Kopf. – Und was war in Hans Köberlins Kopf? – Nun: eine egoistische Frau las einen gebrochenen Mann auf, es passierte das Wunder der Liebe, aber das konnte so noch nicht funktionieren (nicht zuletzt nicht wegen Rogers Kommunikationsinkompetenz …: die Frauen liebten die Liebe, die Männer die Einsamkeit, hieß es in dem Film mehrmals …), da half auch kein feiner Zwirn, und so ließ sie ihn, den Nichtschwimmer, ertrinken.*** Doch der Mann kam zurück, kam gewandelt zurück, nicht mehr als Roger, sondern als Richard, und zwar dermaßen gewandelt, daß er sich in einer ihm feindlich gesinnten Umwelt behaupten konnte, und – und das vor allem! – er konnte den Egoismus der Frau überwinden. Am Ende fuhr man, alles hinter sich lassend, gemeinsam davon. Und Hans Köberlin sagte sich, daß das quasi ja auch sein Projekt hier sei: unterzugehen um als ein anderer, der sich dann, nach der Zeit hier, in einer feindlichen ökonomischen Umwelt behaupten konnte, zurückzukehren, und er mußte an jenes Gedicht von Paul Éluard – der sich in diesem Zitatenfilm auch unter den Zitierten befand: »Mourir de ne pas mourir …« – denken …
Inconnue, elle était ma forme préférée,
Celle qui m´enlevait le souci d´être un homme,
Et je la vois et je la perds et je subis
Ma douleur, comme un peu de soleil dans l´eau froide.
Nouvelle vague war ein Film über die Liebe, über das Glück, etwas geben zu können, was man nicht hatte,**** ein Film, dessen Grundstimmung die Melancholie war, wie sie noch nie zuvor und nicht wieder danach auf der Leinwand inszeniert worden war, Melancholie inszeniert durch die Bilder, vermittelt durch die Musik und vermittelt durch Blicke, durch die Blicke aller Frauen, aber beim männlichen Personal nur vermittelt durch die Blicke Alain Delons als Roger Lennox und durch die Blicke des Gärtners.
Zu Beginn des Films sagte eine Stimme aus dem Off (die aus Jacques Audibertis Roman Monorail las beziehungsweise in dessen Roman die Erzählinstanz war?), sie habe gewollt, daß daraus eine Geschichte werde, und wolle es immer noch, von außen solle nichts eindringen, das seine Erinnerung angreifen könne. Manchmal höre er die Erde leise stöhnen; ihre Oberfläche werde zerfurcht, ihm genüge der Schatten der Pappel, die er einsam und in ihrer Trauer aufrecht hinter sich wüßte. – Aber nicht nur diese außerdiegetische (?) Instanz sprach von Erinnerung, auch Roger (nicht aber Richard, glaubte Hans Köberlin sich zu erinnern) Lennox sprach von Erinnerungen, nämlich es reiche nicht, Erinnerungen zu haben, man müsse auch wissen, wie man sie vergessen könne, wenn sie überhand nähmen (»Wem sagt er das!« dachte Hans Köberlin), und die Geduld aufbringen, ihre Rückkehr abzuwarten, denn Erinnerungen seien nicht nur das, erst wenn sie in einem zu Fleisch und Blut, Blicken und Gesten würden, erst wenn sie ihren Namen abstreiften und sich von einem nicht mehr unterscheiden ließen … erst dann könne aus ihnen in einem glücklichen Moment … Und gegenüber Elena zitierte Roger Jean Paul, »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können«, um dann nach einem Einwand von ihr das Gegenteilige, dem sich auch Hans Köberlin anschließen würde, zu sagen: die Erinnerung sei die einzige Hölle, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt, in die man auch ohne jede Schuld verstoßen werde. Es wurde aber kein Objekt dieser Erinnerungen thematisiert, woraus Hans Köberlin schloß, daß es jene Erinnerungen waren, welche erklärten, wie man geworden was man war. Und da stimmte er auch Kaja Silverman zu, wenn sie im Gespräch mit Harun Farocki meinte: »Indem es Elena und Lennox gelingt, ihre Alltäglichkeit abzustreifen, überwinden sie nicht das Irdische, sondern fangen überhaupt erst an, ihm gerecht zu werden.«
Es ging auch um arm und reich, und als das Hausmädchen Cécile fragte, was denn an den Reichen anders sei, bekam sie ebenso treffend wie tautologisch zur Antwort, die Reichen hätten mehr Geld. Das Thema des Films (Liebe und Erinnerung) wurde allerdings nicht auf allen Ebenen – also auch auf der der Domestiken – thematisiert, und drangsaliert wurde das Personal bloß von Seinesgleichen. Das Ambiente der Geschichte war aber in der Hinsicht Thema, daß die Liebe unter außeralltäglichen Konditionen verhandelt wurde (mit dem Abstreifen der Alltäglichkeit lag dann Kaja Silverman dann wohl doch nicht so richtig – oder kam es auf den gewohnten Alltag des Rezipienten – »men of poor beginnings« – an?).
Aber das, diese Bemerkungen hier, das war alles nur Kleinkram, Nouvelle vague war einer der wenigen Filme schlechthin, die achte Kunst, die zu sich selber gekommen war.
Ende der emporgekommenen Fußnote.
Geträumt hatte Hans Köberlin …


* Das Filmstill auf dem Kalenderblatt zeigte, wie bereits gesagt, eine Szene aus einem weiteren Film von Chabrol. Man sah erneut Stéphane Audran (die an diesem Tag vor 81 Jahren geboren worden war) und Michel Piccoli mit einem übel zugerichteten Mann, den Hans Köberlin nicht kannte, weil er auch diesen Chabrolfilm noch nicht kannte, in Les noces rouges (1973), und wie bereits angedeutet, auf dem Vorjahresblatt nochmals La femme infidèle (1968).
An diesem Tag, dem 8. November also, vor 78 Jahren war auch Alain Delon geboren worden. Er tauchte weiter oben, ganz jung da noch, bereits als Rocco auf, er hatte vor allem mit Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï (1967), mit Henri Verneuils Le clan des Siciliens (1969) und natürlich mit Godards Nouvelle vague (1990) Einzug in Hans Köberlins private Filmgeschichte genommen. Für Nouvelle vague gehen wir einmal den umgekehrten Weg und verweisen mittels eines ›*‹ von der Fußnote in den Textkörper. Also: ↑
Und das Kalenderblatt von 1996 zeigte Marlene Dietrich und Gary Cooper in Desire (Frank Borzage, 1935/36). Auch hier liegt uns natürlich daran, Georg Seeßlens meist hellsichtige Beobachtungen mitzuteilen: »Diese Diskrepanz (sie ist weit weniger verrucht als sie sich gibt) ist es, die Marlene Dietrichs erotische Ansprache bestimmt: Die Provokation, die von ihr ausgeht, ruft den Wunsch hervor, hinter der Maske der Verruchtheit die Frau zu entdecken. Dieser Wunsch ist die Bewegung ihrer Filme (und, nebenbei, die Entwicklung ihrer Karriere als Schauspielerin). Je mehr sie verliebt ist, je mehr sich also ihr Eros konkretisiert, desto mehr fällt von ihr die Überdramatisierung des Weiblichen in ihren Auftritten ab. Sie ist, zumindest in den Filmen der dreißiger Jahre, anfangs nicht viel mehr als ein menschliches Kunstwerk, verblüffende, hypertrophe und doch bereits schon ein wenig ironische Haartrachten, Kostüme und Kleider lassen sie ›unberührbar‹ schön erscheinen. Ihr dunkler Gesang ist eine Verführung, sich auf ein Spiel einzulassen, genausoviel steckt aber auch eine Drohung in ihm; die Dummen lassen sich von ihr auf eine falsche Fährte locken und geben sich mit den erotischen Bildern zufrieden, die sie inszeniert. Den wenigen anderen offenbart sie sich als Mensch.« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 46).
** Dauernd werde, so Godard, vom Publikum geredet, er kenne es nicht, er sehe es nicht, er wisse nicht, wer das sei. Angefangen, ans Publikum zu denken, habe er wegen der großen Mißerfolge, wegen der enormen Mißerfolge zum Beispiel bei Les Carabiniers, den sich in fünfzehn Tagen nur achtzehn Leute angeschaut hätten. Da habe er sich dann gefragt, wer zum Teufel diese achtzehn Leute gewesen seien, diese achtzehn Leute, die gekommen wären, sich den Film anzuschauen, die hätte er gerne gesehen, er hätte gern ihr Bild gesehen. Das sei das erstemal gewesen, daß er wirklich ans Publikum gedacht habe, da habe er ans Publikum denken können. Er glaube nicht, daß Spielberg ans Publikum denken könne, wie könne man an zwölf Millionen Zuschauer denken? Sein Produzent könne an zwölf Millionen Dollar denken, aber an zwölf Millionen Zuschauer zu denken, das sei einfach unmöglich (vgl. Jean-Luc Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt am Main 1984, S. 81f.).
*** Hans Köberlin wußte nicht, was er von der im Film geäußerten Aussage, eine Frau könne einem Mann nicht sehr schaden, er trage seine ganze Tragödie in sich selber, halten sollte. Seine erste Reaktion, bedenkend, was ihm widerfahren, war zu sagen, das stimme nicht. Dann: »Wäre ich ein Mann gewesen und hätte mich wie ein solcher verhalten …« –: aber das stimmte auch nicht. Dann kam er auf eine adäquate Modifizierung dieser Aussage: »Eine Frau kann einem Mann nicht sehr schaden, er trägt seine ganze Tragödie in sich selber, sie kann aber sehr wohl einem Liebenden sehr schaden (nämlich durch Verrat), denn ein Liebender trägt keine Tragödien in sich selber.« Das klang ganz gut, Hans Köberlin war aber nicht vollkommen überzeugt …
**** Hans Köberlin glaubte irgendwo bei Žižek gelesen zu haben, dies sei ein Satz von Lacan, er selber mußte dabei an einen modifizierten Shakespeare denken, The Tragedy of Romeo and Juliet: »The more I give, the more I have.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).