Dienstag, 3. November 2015

Sonntag, der 3. November 2013


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»Ich hatte einen Traum in dem Ambiente eines französischen Kriminalfilms der späten sechziger oder der frühen siebziger Jahre, und Lino Ventura und Jean Gabin traten leibhaftig auf, dazu ein Schwarzer mit Bärenkräften. Es ging darum, freiwillig in den Tod, zu dem man von einem Gericht verurteilt worden war, zu gehen, entweder durch den Schierlingsbecher (der aus Plastik war und dessen Inhalt aussah wie billiger Rotwein) oder durch manuelles Erwürgen, wobei man mit dem Würger befreundet war, wodurch ein gewisses Verständnis zwischen Henker und Delinquent aufkam (›Mache es mir nicht zu schwer,‹ bat der Henker, woraufhin der Delinquent meinte, ›Tu mir nicht allzu weh.‹). Keiner hatte den dazu nötigen Heroismus, wenn überhaupt, dann wäre mir es am liebsten gewesen (was ich auch als Wunsch äußerte, der mir aber verwehrt wurde, denn es gab die Gesetze), man hätte mich erschossen. Ich hatte den Becher bereits in der Hand und sann darüber, wie ich mich vor dem ganzen Prozedere drücken könnte, weiß aber nicht mehr, ob ich das geschafft habe oder ob ich bloß einen Aufschub herausschinden konnte. Bin dann kurz vor neun Uhr wachgeworden, dann laufen und schwimmen. Allen Einflüsterungen, nochmals an den Bericht zu gehen, gebe ich nicht nach. Dusche jetzt nicht und gehe heute am Nachmittag nochmals schwimmen und werde anschließend in der ›Tango Bar‹ die Druckvorlage an den Verleger und die Druckerei schicken«, so konnte man es in seinem Arbeitsjournal lesen. Als er dann aber in der Druckvorlage von Telos nach einer Quellenangabe von uns suchte, um in einem anderen Kontext eines unserer Zitate zu verwenden, da stieß er prompt auf einen Tippfehler. Und als er dann noch Stichproben machte, indem er bei der Datei der Druckvorlage auf dem Monitor seines Laptops ein paarmal die Bildlauftaste nach oben und ein paarmal die Bildlauftaste nach unten betätigte, da stieß er jedesmal, wenn er die betreffende Seite las, auf weitere Tippfehler …
»Merde!«
Er konnte doch nicht, so sagte er sich, jetzt noch einmal Seite für Seite durchgehen, allein schon wegen Kapitel XX nicht … Er wollte diese Ausgeburt einer Katastrophe endlich loswerden und mußte irgendwie zu einem Abschluß der Arbeiten kommen …: er würde, so nahm er sich vor, das Dokument ganz oberflächlich nochmals beäugen und was ihm dabei prima facie auffiel, das wollte er korrigieren, dann würde er eine neue Druckvorlage erstellen und es endlich wegschicken.
Alles in allem zog sich diese Prozedur, die er nicht am Stück, sondern immer mal wieder zwischendurch absolvierte, nochmals über sechs Tage hin.
Wir vergaßen zu erwähnen, welche Passage aus dem dritten Bericht Hans Köberlin für die Rückseite des Einbands vorgesehen hatte …*
Aber an das Haus von außen konnte Clemens sich nicht erinnern, er hätte es nicht wiedererkannt, selbst wenn es noch genauso ausgesehen hätte wie vor den Jahrzehnten, die seit dem ins Land gegangen (auch hier gab es mittlerweile statt des schönen grauen und angemessenen und mit etlichen Jahrzehnten Patina versehenen Fünfziger- oder Sechzigerjahreputzes bonbonfarbene Anstriche … er wollte zwar nicht erwachsen werden, er wollte aber auch nicht infantilisieren). Er ging die Straße entlang, bis er zu der Ansicht kam, hier hätte es so ungefähr gewesen sein können, eines von diesen Häusern, von hier bis zu der Kreuzung da, fünf Etagen mußte das Haus, wie gesagt, haben, er zählte … Nein: so ein allgemeinmenschliches Ereignis, das früher hätte passieren müssen und das später irgendwann sowieso passiert wäre, konnte man nicht als Rubikon bezeichnen. Eine Aufzeichnung Canettis leicht modifizierend konnte man von Clemens sagen, jede Tendenz in seinem Leben habe ihre Zeit abgewartet, bis sie, zu einer Frau gesammelt, ihm entgegengetreten und zum Schicksal geworden war.**
Es hätte uns erstaunt, hätte Hans Köberlin eine andere Passage als jene, aus dem Kontext von Clemens Limbularius’ erstem vollzogenen Geschlechtsverkehr stammende, genommen. Dieser Kontext war für beide, den Autor und seinen Herausgeber und die Fragmente Kommentierenden, signifikant.
Haben wir übrigens bereits auf die merkwürdige Umkehrung – ein Autor wurde zum Herausgeber eines Berichts über seinen Herausgeber und zum Kommentierenden unserer (die wir ein wenig auch sein Autor und nicht nur der Autor des Clemens Limbularius waren) Fragmente – aufmerksam gemacht?


* Zur Erinnerung … HannaH & SesyluS
Clemens’ Brillengläser wurden langsam wieder klar, und er erkannte die, die da saß … sie, nämlich HannaH, die auf Karls Ruf hin den Kopf zu dem Eintretenden wendete. Was schaute sie Clemens an? Erkannte sie ihn? Benannte sie ihn? Nur keine Metaphysik jetzt bitte!
… und … du rissest dich denn ein.
… und auf der hinteren Seite des Einbands stand ein Zitat aus einem der Essays, das Clemens als passend für diese exponierte Stelle ausgesucht hatte, denn Pressestimmen zu den Texten gab es noch nicht, außerdem: was die Presse schreiben würde, das besagte wenig und war als Referenz in der Regel peinlich. Folgendes stand also auf der Rückseite des Buches: Sein will gelernt sein. Daß man ist, ist kein Beweis dafür, daß man ist. Man war zwar, aber es ist nicht sicher, ob man es war, der war. Dann passiert etwas, mit der Folge, daß man ist, man ist anders als man war – irgendwie kann man es anscheinend doch oder man redet es sich zumindest ein … Aber so einfach ist das nicht, denn da ist das ist als war vor dem ist als sein und man kriegt das nicht unter einen Hut. – Clemens fragte sich, warum er ausgerechnet diese, für Hans Köberlin eher untypische Passage ausgewählt hatte, er wußte es aber nicht mehr.
** Vgl. vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Fragment, Berlin 2013, S. 98.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).