Mittwoch, 10. Juni 2015

John Cage, Indeterminacy

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Hans Köberlin hörte während seines Dauerlaufs tatsächlich John Cages Indeterminacy, er schaffte die ersten beiden Teile und zehn Minuten des dritten Teils, das hieß, daß er in den vergangenen eineinhalb Wochen der großen Dauerlaufstrecke schneller geworden war. In einer dieser Geschichten erzählte Cage (während Hans Köberlin südlich hinter der Hauptstraße Treppenstufen hinunter zum Strand lief) von einem Freund aus der Stadt des Lichts, der seinen alten Ford (wohl so ein Kleinbus, ›Transit‹ oder wie die Dinger geheißen) mit Möbeln und Topfpflanzen zu einem mobilen Wohnzimmer gemacht hatte. Eines Tages dann sei er damit vor einer Hamburgerbude vorgefahren, habe einen roten Teppich ausgerollt, sei darüber in die Bude gegangen, habe einen Hamburger gegessen, habe anschließend den Teppich wieder eingerollt und sei weitergefahren. – Mit dem Hören von John Cages Geschichten, während des Dauerlaufens im Hinterland, vorbei an den beiden Discountern aus Hans Köberlins Herkunftsland, die zu boykottieren er sich entschlossen hatte, und vorbei an dem dazwischen liegenden nach Odysseus benannten Trailerpark und den beiden vereinzelten Hochhäusern im Hinterland, und über die Brücke über das ausgetrocknete Flußbett (wir vergessen immer, wie diese hier häufig vorkommenden ausgetrockneten Flußbetten genannt wurden) am Ende des Hinterlande und am Anfang des Ortes, und vorbei an den beiden Tankstellen und über die Straße, die wegen der sie flankierenden Allee als einzige Avenida des Ortes in Hans Köberlins Imagination die Bezeichnung Avenida verdient hatte und auf deren Zebrastreifen er wegen des hiesigen Fahrstils stets befürchtete, daß ihn hier einmal sein Schicksal ereilen könne …: mit John Cage im Ohr von einem dieser protzigen SUVs, wie man die dämlich nannte, überrollt … – aber das mit der Avenida stimmte nicht ganz: es gab noch die ein oder andere Stelle, die sich ihre Berechtigung aus anderen (Re-)Imaginationen Hans Köberlins holen konnte – und weiter durch den Ort an die Promenade und dann am Meer entlang – mit dem Hören von John Cages Geschichten also sollte es seine besondere Bewandtnis haben, aber dazu später mehr. (…)

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Auch an diesem Morgen, nachdem er nach Aktualisierung des Filmkalenders ein Still aus Max Ophüls’ Adaption der Stevan-Zweig-Novelle Brief einer Unbekannten goutiert hatte, hörte Hans Köberlin während seines Dauerlaufs Cages Indeterminacy, er begann aber diesmal mit dem zweiten Teil, um mit dem Hören weiter als gestern zu kommen. Das hatte den Nebeneffekt – der Cage bestimmt gefallen hätte –, daß es zu einer Art von Phasenverschiebung betreffs des Hörens bestimmter Geschichten und den Orten des Hörens dieser Geschichten kam, weil Hans Köberlin sich beim jeweiligen Hören an die Orte des vormaligen Hörens erinnerte, die spezifische Rezeptionssituation war ihm ja – was einen bei Hans Köberlin sicher nicht wunderte – Teil der Rezeption. So hörte er zum Beispiel heute die Geschichte von Cages Freund mit dem alten Ford, die er gestern an den Stufen zum Strand südlich hinter der Hauptstraße gehört hatte, bereits auf einer der Straßen im Hinterland. Er hörte die Geschichte also aktuell und simultan, quasi als Echo aus der Vergangenheit … Und er sollte sich fürder, wenn er die Rezeptionsorte auch ohne Cage zu hören passierte, an die Cage-Rezeptionssituation während seines Dauerlaufs erinnern.
In einer anderen Geschichte, die Hans Köberlin diesmal überhört hatte oder die sich im ersten, diesmal nicht gehörten Teil befand (der Erinnerung der Rezeptionssituation nach war der erste Fall, also das Überhören, wahrscheinlicher), ging es um ein Mädchen, das in einer schulischen Situation nie ihre Aufgaben erledigte. Als sie gefragt wurde, warum sie das nicht täte, antwortete sie, sie habe keine Zeit dafür gehabt. Was sie denn glaube, so der Lehrer weiter, wie viele Stunden ein Tag habe? – Na, vierundzwanzig. – Nein, so der Lehrer weiter, der Tag habe so viele Stunden, wie man ihm geben würde. – Da war etwas dran, so Hans Köberlin, aber wie bei allen solchen Geschichten: nur etwas, der Hauch einer Metapher, denn der Tag hatte nun einmal bloß vierundzwanzig Stunden, da biß die Maus keinen Faden ab.
Noch eine andere Geschichte gefiel Hans Köberlin außerordentlich: »Artists talk a lot about freedom«, so Cage, und man gebrauche häufig den Vergleich »free as a bird«, nun, Morton Feldman habe neulich im Park Vögel beobachtet (»our feathered friends«, nannte sie Cage) und sei zu der Einsicht gekommen: »They’re not free: they’re fighting over bits of food«, eine Erfahrung, die Hans Köberlin auch mit den Spatzen und den Tauben und den Möwen auf der Terrasse der ›Tango Bar‹ machte, und er, Hans Köberlin, war auch nicht frei, denn er mußte seine Nüßchen zum Wein gegen seine gefiederten Freunde, die er eher als seine gefiederten Feinde betrachtete, verteidigen (und natürlich sympathisierte er mit dem Taubenvergifter im Park).
Und wenn Cage von einer Einladung zu einem Essen bei einer indischen Freundin erzählte, zu dem außer ihm noch Dr. Suzuki, Gertrude Stein und James Joyce gekommen,* da dachte Hans Köberlin: »Ach …!«


* Da aber hatte Hans Köberlin nicht aufmerksam zugehört …
»An Indian lady invited me to dinner and said Dr. Suzuki would be there. He was. Before dinner I mentioned Gertrude Stein. Suzuki had never heard of her. I described aspects of her work, which he said sounded very interesting. Stimulated, I mentioned James Joyce, whose name was also new to him. At dinner he was unable to eat the curries that were offered, so a few uncooked vegetables and fruits were brought, which he enjoyed. After dinner the talk turned to metaphysical problems, and there were many questions, for the hostess was a follower of a certain Indian yogi and her guests were more or less equally divided between allegiance to Indian thought and to Japanese thought. About eleven o’clock we were out on the street walking along, and an American lady said, ›How is it, Dr. Suzuki? We spend the evening asking you questions and nothing is decided.‹ Dr. Suzuki smiled and said, ›That’s why I love philosophy; no one wins.‹« (Composition as Process; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 41).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013). 

Verleser

Anschließend unterlief Hans Köberlin ein Verleser, der ihm sehr gut gefiel: »Cioran hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß die charakteristische Regung seines Denkens und Schreibens die Umkehrung eines Fluchs in eine Aufzeichnung gewesen sei«, las er, aber Sloterdijk hatte natürlich geschrieben: »Cioran hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß die charakteristische Regung seines Denkens und Schreibens die Umkehrung eines Fluchs in eine Auszeichnung gewesen sei.«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel I [Prolog], Von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013).

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Statt »Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit« (ein Buchtitel) las ich ›Das Denkmal für die Grenze der Sprachfähigkeit‹ und dachte, das sei der Titel eines Kunstwerks.

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Hans Blumenberg: »Diese Verlesung (statt ›si fractus illabatur / impavidum ferient ruinae‹ ›sic fratus illabitur …‹) ist die Wunschhandlung eines Theologen, den Konjunktiv des antiken Autors zum eschatologischen Indikativ seiner spezifischen Gewißheit zu machen.«

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Verleser bei einem Gedicht von Heinrich Heine: »… klingt das Lied auch nicht ergötzlich, / hat’s mich doch von Arbeit befreit.« Bei Heine steht jedoch: »hat’s mich doch von Angst befreit.«

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»Ich korrigiere die Fahnen der Lukian-Auswahl, die ich für Bompiani gemacht habe. In meiner Anmerkung zu Eine wahre Geschichte hatte ich geschrieben: ›Der Homer der Legende ist blind, weil der Tradition zufolge die Muse dem Dichter den Gesang (il canto) gibt und ihm das Augenlicht nimmt.‹ Aber der Setzer hat statt canto (Gesang) conto (Rechnung) gesetzt.«
(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Kalauer, S. 187).

Und dies ist der 132. Eintrag


(John Cage, Silence. Lecture on Nothing; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 112).

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This is the first verse
This is the first verse
This is the first verse
This is the first verse …
And this is the chorus
Or perhaps it’s a bridge
Or just another part
of the song that I'm singing

This is the second verse
Or it may the last verse
This is the second verse
Or it may the last one
And this is the chorus
Or perhaps it’s a bridge
Or just another key change …

(Matching Mole, Signed Curtain; Words & Music by Robert Wyatt).