Montag, 23. März 2015

The Chums of Chance

Warum der Gebrauch eines Roue à livres:

Die wirklich guten Dinge widerfahren einem, das ist im Leben so wie beim Schreiben, man kann sie für gewöhnlich nicht erzwingen; man kann ihnen allerdings, zumindest beim Schreiben, günstige Konditionen  für potentielle Widerfährnisse einräumen, etwa durch die simultane Lektüre diverser divergierender Bücher, mehr oder weniger aus einer Laune heraus ausgewählte Bücher oder zufällig ausgewählte Bücher oder nach einer unverhofften Begegnung über einen gekommene Bücher.

»Die Kraft zu kombinieren und Aehnlichkeit zu finden wächst bei mir so, daß ich zuletzt gar keine Unähnlichkeit mehr kenne, sondern wie ein Gott alles ähnlich sehe.« (Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, hrsg. von Kurt Wölfel und Thomas Wirtz, Frankfurt am Main 1996, S. 82).

»Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehn, die wir besitzen, ist nichts als nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Und das verschollene Vermögen, ähnlich zu werden, reichte weit hinaus über die schmale Merkwelt, in der wir noch Ähnlichkeit zu sehen imstande sind.« (Walter Benjamin, Lehre vom Ähnlichen; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 2, S. 210; vgl. auch ebd.: Über das mimetische Vermögen).

Bücherliste #3

Beschluß der aktuellen Liste der Bücher auf dem Roue à livres:
  • Niklas Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008
    »Es geht um verschiedene Formen des Umgangs mit dem, was durch Beobachtung unbeobachtbar wird.« (S. 245).
  • Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007
    »Es hatte bei dieser um nichts zu gehen als um das Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären: Das Strömen eines Flusses durch die Jahreszeiten; das Dahinziehen von Leuten; das Fallen des Regens, auf Gras, Stein, Holz, Haut, Haar; der Wind in einer Kiefer, in einer Pappel, an einer Steinwand, zwischen den Zehen, unter den Achseln; jene Stunde vor der Dämmerung, da im Himmel die letzten Schwalben kurven, mittendrin das erste Zickzack der Fledermäuse; die Spuren der verschiedenen Vögel am Grund einer Feldweglache; das bloße Abendwerden, mit der Sonnenkugel noch im Westen, der des Mondes genau gegenüber im Osten.« (S. 226f.).
  • Raymond Queneau, Une histoire modèle / Eine Modellgeschichte, München 1985
    »Le roman comique. Lorsque le narrateur sourit et dédaigne la mort, on appelle son récit un roman comique.« (S. 16).
  • Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985
    »Ich stand so herum, mochte nicht recht vorwärtsgehen. Wenn ich ging, hieß es mich stillstehen, und stand ich still. so drängte es mich wieder vorwärts.« (Bd. 16, S. 23).
  • Wolfgang Schulz, Dokumente der Gnosis, Augsburg 2000
    »So ist etwa das manichäische System, das gänzlich auf der Lehre von den ›Drei Zeiten‹ oder ›Drei Momenten‹ fußt (initium, medium und finis), nur die großartige Arbeit an einem universellen und scheinbar objektiven Entwurf eines zugleich anthropologischen, kosmologischen und soteriologischen Mythos, der unseren Formulierungen zugrunde liegt.« (S. 26; das erinnert doch fatal an Telos!).
ENDE DES EXILS

  •  Friedrich Glauser, Das erzählerische Werk, hrsg. von Bernhard Echte und Manfred Papst, Zürich 2000
    »Unterwegs lasen wir [Friedrich Glauser und Tristan Tzara] das Gutachten des Psychiaters: es war sehr amüsant. Als Beweis für den Irrsinn seines Patienten [Tristan Tzara] hatte der Seelenarzt Gedichte seines Patienten zitiert, die mehr als deutlich beweisen sollten, daß es sich hier um einen krassen Fall von Verblödung handeln müsse.« (Bd. 2, S. 70).
  • Arno Schmidt, Abend mit Goldrand. Eine MärchenPosse. 55 Bilder aus der Lä/Endlichkeit für Gönner der VerschreibKunst, Frankfurt am Main 1975
    »ANN’EV’ (sie zuckt, unparteiisch, die braunen Achseln; und legt den Mund wieder aufs Knie. Sie murmelt): ›Die Materie strebt ebm nach Form.‹« (S. 27).
  • Peter Fuchs / Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt am Main 1994
    »Eine erste wichtige Hinsicht ist, daß Abstraktionen wie ›der Mensch‹ angewiesen sind auf eine übernatürliche Ordnung, die gewissermaßen den Beobachterstandpunkt angibt, von dem aus sie als Abstraktionen möglich werden. Das aber setzt voraus, daß diese übernatürliche Ordnung eine überlokale Ordnung ist.« (Rudolf Stichweh, Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zu einer Soziologie der ›Menschheit‹, S. 77).
  • Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith Zürich, 2003
    »Ich höre die Zeit fallen, Tropfen um Tropfen, und nicht einen Tropfen, der fällt, hört man fallen.« (S. 40).

Bücherliste #2

Fortsetzung der aktuellen Liste der Bücher auf dem Roue à livres:
  • Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1995
    »Wie jeder weiß, gibt es zwei Arten von Artefakten: solche, die von uns unabhängig sind, und solche, die von uns abhängen. Nur die ersten funktionieren ununterbrochen oder, besser gesagt, hören niemals auf, Artefakte zu sein. Beispiel: Mauer und Dach schützen uns ständig, selbst wenn wir schlafen, doch wenn wir Spaten und Schreibfeder fallen lassen, schlafen sie, sind unnütz und nichtig, intelligent nur in unseren ekstatischen Stunden. Die wahren Werkzeuge sind im Grunde nicht auf uns angewiesen; die übrigen ruhen zu oft, um auf jenen Titel wirklich Anspruch erheben zu können. Wenn also drei Automatismen einen und denselben Namen tragen, der das Erkennen ausdrückt – der automatische Pfahl, der sich der Sonne entgegenstreckt; der automatische Winkel oder Seitenstreifen, den man anlegt oder wegnimmt; und die automatische Operation, deren Iteration Zahlenreihen erzeugt –, so ist damit der Weg zur artifiziellen, künstlichen Intelligenz bezeichnet. Deren Wandlungen, deren Werden wir in diesen drei Stadien erkennen: zunächst Ding, Pfahl oder Achse, spekulatives Werkzeug; dann Lineal, das sich zur beliebigen Reproduktion von idealen Geraden, Winkeln, Polygonen eignet, die diesem Lineal extrahiert oder, besser gesagt, abstrahiert wurden; schließlich formale Operation mit Zahlen, automatische Regel, Algorithmus.« (Michel Serres, Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland, S. 132).
  • Sören Kierkegaard, Die Wiederholung / Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, Reinbek 1961
    »Er ist da an die Grenze des Wunderbaren gekommen, und soweit dies also geschehen soll, muß es geschehen kraft des Absurden.« (S. 52).
  • Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013
    »Die Liebe in unseren Büchern haben wir reichlich aus unserem Hirn, aus der Erschütterung unserer Vernunft geschöpft: einer von uns war gut acht Tage lang in ein Flittchen verliebt, und der andere drei Tage in eine Nutte zu zehn Francs. Macht elf Tage Liebe für zwei.« (Bd. 4, S. 111).
  • E. M. Cioran, Werke, Frankfurt am Main 2008
    »Die Werte des Eros erleben bedeutet, unmittelbar leben, in der Augenblicklichkeit des Lebens, in seiner geheimen Notwendigkeit, die wegen der wesentlichen Naivität jedweder erotischen Erfahrung als Freiheit empfunden wird.« (S. 127).
  • Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; in: Schriften und Briefe, München 1968ff., Bde. 1-3
    »Wir haben heutzutage eine ganze Menge sogenannter feiner Köpfe (nicht großer Geister). Es sind aber dieses nicht sowohl Leute, die groß in der ganzen Anlage ihres Geistes und zwar ursprünglich sind, sondern bei den meisten ist die Feinheit eine Schwächlichkeit, Hypochondrie, eine kränkliche Empfindlichkeit. Ein solcher Gelehrter ist zu feinen Bemerkungen aufgelegter als andere Menschen, stiftet aber [in] dem Reich der Gelehrsamkeit selten so viel Nutzen, glaubt viel ausrichten zu können, wenn er nur erst wollte, will aber niemals. Diese Leute bilden sich leicht nach allem wenn sie lauter Gutes lesen, so schreiben sie ziemlich gut, sie sind aber allzeit weit entfernt von der sicheren Richtigkeit der Alten, deren Genie der gesunden und festen Reife einer Frucht und nicht der welken wurmstichigen, wiewohl oft schönfarbigen einiger Neueren gleicht.« (Bd. 1, S. 55f.).
(siehe → #3).