Dienstag, 17. März 2015

Asymmetrie

Das Dunkel hindert nicht das Erscheinen des Hellen, doch stets verwehrt uns das Licht, die Dunkelheit je zu gewahren.

(Michel Serres, Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland; in: ders. (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1995, S. 130).

Drehen wir an dieser Stelle, um ein Beispiel für Hans Köberlins Lektüremodus zu geben, bei dem gerade in der Leseposition auf Seite 114 aufgeschlagenen Buch – es handelt sich um Serres’ Éléments dʼhistoire des sciences – das Bücherrad um ein Buch zurück, zu Walter Benjamin, lassen aber das Passagen-Werk unberührt und begeben uns stattdessen zu der digitalisierten Ausgabe der Gesammelten Schriften (wir befinden uns in einem Bild, darum geht das einfach so) und schlagen virtuell in deren erstem Band die Seite 696 auf und lesen dort in Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen: »Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug (und in den, den Sieger, sich dann die Geschichtsschreiber des Historismus einfühlten), der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt.« (Über den Begriff der Geschichte; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, S. 696). Dann drehen wir an dem Bücherrad, bis wir wieder das von Serres herausgegebene und auf Seite 114 aufgeschlagenen Buch vor uns liegen haben und lesen dort noch einmal das, was uns bewogen hat, das Bücherrad zu bewegen, lesen also wie Serres die Pyramiden von Gise mit Thales’ Theorem von der Invarianz einer Form bei Variation der Größe vergleicht und wie er diesen Vergleich als den des Härtesten (die gewaltige Steinmasse der Pyramiden) mit dem Sanftesten (der reinen Form) bezeichnet und wie er zu dem erstaunlichen Schluß kommt, daß Kulturen, um zu überleben – was soviel heißt wie: zu überdauern, was soviel heißt wie: tradiert zu werden – nicht den Sieger, sondern das Opfer gespielt hätten, und nur das Sanfteste bliebe (vgl. Serres, Gnomon, a. a. O., S. 114ff.). Läge ein Band der Schriften Laotses auf dem Bücherrad, so drehten wir nun dorthin, da dem aber nicht so ist, drehen wir das Bücherrad zu Brecht (wir tun einmal so, als läge da ein Band von Brechts Gesammelten Werken, was er nach obiger Liste momentan nicht tat) und lesen in dessen Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration

Doch der Mann (der Zöllner) in einer heitren Regung
Fragte noch: »Hat er (Laotse) was rausgekriegt?«
Sprach der Knabe (Laotses Adlatus): »Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.«

(Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. ?, S. ?). – Wir nannten eben Serres’ Schluß deswegen erstaunlich, weil er meinte, das Opfer zu spielen sei eine Überlebensstrategie von Kulturen (und er ging sogar so weit zu sagen, Thales habe das Spiel des Härtesten umgedreht), und wir fragen uns, ob denn die Mathematik (oder die Geometrie) außer in den Hochzeiten der heiligen Inquisition je das Opfer hätte spielen müssen …: im Gegenteil, willfährige Dienerin eines jeden, der sie benutzen wollte, auch der Pyramidenbauer, war sie, die Schlampe, stets und ist sie noch, universal wie sonst nur noch das Geld. – Hatte man es hier nicht vielmehr – auch im Verständnis Benjamins – mit zwei Siegern zu tun? Wir können Serres Motivation nachvollziehen, er wollte Benjamins Pessimismus relativieren: »Seht her, nicht immer wird auf den Opfern herumgetrampelt, sie sind gar keine Opfer, sie spielen nur Opfer, bis der Karnevalszug vorbei ist …« Und ist nicht eigentlich das, so fragen wir, was als ›Kultur‹ bezeichnet wird und identitätsstiftend wirken soll, qua Exklusion des Nichtidentischen immer schon Täter gewesen?

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).

Guter Rat

Und warum brauchen wir denn eigentlich soviel Sinn? Können wir denn nicht leben, selbst wenn diese Welt eines Sinnes ermangelte? Kann ein Rausch der Urgründigkeit, ein hemmungsloser Dionysismus denn diesen universalen Unsinn nicht ersetzen? Leben wir, weil das Leben keinen Sinn hat!


(E. M. Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung; in: Werke, Frankfurt am Main 2008, S. 122).