Samstag, 31. Oktober 2015

Donnerstag, der 31. Oktober 2013


[30 / 294]
»Donnerstag, den 31. Oktober 2013,* träumte von Zügen und Bahnhöfen, auch von einem Auto, daß ich allerdings nicht benutzen konnte, weil ich keinen Führerschein besitze (kenne aber auch Träume, in denen ich dennoch mit dem Auto gefahren bin, oder eher: geflogen bin). Bei all den Verkehrsmitteln hatte ich nicht die geringste Möglichkeit, der Frau eine Nachricht zu senden, alles – die Nummer des Bahnsteigs, Abfahrtszeiten, Umsteigebahnhöfe, Ziele der Züge et cetera – war unsicher und ich hatte doch keine Zeit zu verlieren. Es war ein heißer Sommertag und der Traum war eindeutig in Farbe gewesen.«**


* Fellini war vor 20 Jahren gestorben, und ein altes Kalenderblatt aus Hans Köberlins Kiste zeigte ein Filmplakat von Roma (1972), und zwar jenes, auf dem das Ensemble dieses aberwitzigen Meisterwerks in der ewigen Stadt unter der säugenden Wölfin stand, dort wo sonst Romulus und Remus saßen und an den Zitzen des Muttertieres saugten (vgl. zu Clemens Limbularius’ Roma-Rezeption vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 275ff. und weiter unten im Text sowie zu einer interessanten Variante des Filmplakats die Fußnote dort). Außerdem hatte Barbara Bell Geddes Geburtstag (*1922), und man sah sie auf dem Filmkalenderblatt aus dem Jahre 1997, wie sie in Hitchcocks Vertigo (1958) mitleidend einen wegen Kim Novak vollkommen demoralisierten James Stewart in den Armen hielt. Barbara Bel Geddes trug eine Brille, was sie in diesem Film nur zu einem guten Kumpel des Mannes machte, im Gegensatz zu Kim Novak, einmal sophisticated und einmal als die Schlampe ohne BH, in der Scottie aber gleich das Potential für eine Sophistification erkannte, kein Wunder: war es doch dieselbe Frau. Im Akademikermilieu hatte Ingrid Bergman in Spellbound (1945) allerdings ohne Statusverlust eine Brille tragen dürfen.
** Jules de Goncourt berichtete am 15. Februar 1862 im Journal von einem Traum nach dem Genuß von Portwein, einem Traum von Blumen, von deren Farben er ein Gefühl hatte, sie aber nicht optisch wahrnahm, was ihn zu dem Schluß veranlaßte, die Farbe im Traum sei wie ein Spiegelbild in den Ideen und nicht eine Spiegelung im Auge (Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 3, S. 215).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Freitag, 30. Oktober 2015

Mittwoch, der 30. Oktober 2013


[29 / 295]
Weiterhin saß Hans Köberlin über der Herausgabe und Kommentierung des Telosfragments: »Die Zwischenräume der Wörter zogen seltsame weiße Wege durch die Schwärze der Buchstaben …«*



* Friedrich Glauser, Der Kleine (II); in: Das erzählerische Werk, hrsg. von Bernhard Echte und Manfred Papst, Zürich 2000; Band 1: 1915-1929: Mattos Puppentheater, S. 116; »weiße Wege«, die wir hier zur Verdeutlichung mit einem Bleistift mit der Härtegradbezeichnung »HB« schwarz nachgezogen haben. Eine ganze Wissenschaft aus dem Bild einer Buchseite artikulierte der Bücherfetischist Augustín Delgado in Domínguez’ La casa de papel, nachdem er die Ansicht geäußert hatte, daß eine Buchseite eine großartige Zeichnung sei, ein Spiel aus Linien und kleinen immer wiederkehrenden Figuren, die ihren eigenen Gesetzen von Rhythmus und Komposition folgten, und er teilte die Ansicht, daß man an den Korridoren, den durch die Wortabstände entstehenden vertikalen und diagonalen Strecken, die Qualität der Prosa beurteilen könne, denn ein Schriftsteller ohne Sprachrhythmus sei zur Anlage von Korridoren nicht imstande (vgl. Carlos María Domínguez, Das Papierhaus, Berlin 2014, S. 53f.).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Dienstag, der 29. Oktober 2013


[28 / 296]
Winona Ryder war am 29. Oktober im Jahre 1971 – da war Hans Köberlin bereits elfeinhalb Jahre alt und bereits ziemlich frühreif – geboren worden, und das Kalenderblatt zeigte einen Still mit ihr verschwommen auf dem Rücksitz des Taxis von Gena Rowland aus Jim Jarmuschs Episodenfilm Night on Earth (1991). Obwohl Hans Köberlin stets nach der Weisheit des seligen P. …
»Bei gleicher Qualifikation –: Frauen zuerst!«
… zu agieren trachtete, hätte er am 29. Oktober 2013 einen Mann auf dem Kalenderblatt sehen wollen, beziehungsweise er hätte einen bestimmten Mann mit Anna Karina sehen wollen (denn damit, mit Anna Karina bei dem Mann, wäre dann auch P. zufrieden gewesen), denn am 29. Oktober 1917 war Eddie Constantine – auch bekannt unter dem Namen Lemmy Caution – geboren worden. Und das Still, das Hans Köberlin genommen, hätte er Godards Alphaville (1965) entnommen, und zwar aus jener Szene, in der Eddie Constantine Anna Karina in dem Hotelzimmer ein zerlesenes und mit Unterstreichungen und Marginalien versehenes Exemplar von Paul Eluards Capitale de la douleur zu lesen gegeben hätte.*
»Mourir de ne pas mourir …«


* In Kindlers Literatur Lexikon, das wir leider nicht mehr zu Hand haben, hatte Friedhelm Kemp geschrieben: »Fast alle Gedichte Éluards sind Liebeslyrik; als solche sind sie zugleich, vom Ansatz her und in ihrer Entfaltung, Gesellschaftskritik, politische Dichtung. Ein Thema der deutschen Romantik, wie es bei NOVALIS, bei HÖLDERLIN aufklingt, wird wiederaufgenommen und neu akzentuiert: Die dichterisch Liebenden verwandeln einander in menschlichere Menschen; sie liefern sich bessere Gründe, das Leben lebenswert zu finden; sie stiften eine neue, hellere, reinere Welt. Voraussetzung ist für Èluard, daß die Liebe alles sei: nicht die transzendierende der Sehnsucht, nicht die ›galante‹ der Eroberung, sondern die der schrankenlosen Gewährung und Gabe; diesseitig und ganz sinnlich und hieraus eine freudige Vernunft gewinnend. Beatrice (wie Dantes Muse hieß auch die erste Séductrice, die Lemmy Caution auf sein Zimmer brachte), Laura, Sophie, Diotima sind keine Vorbilder mehr; die Geliebte ist diese sterbliche Gegenwart, die ›öffentliche Rose‹, nackt, offen, und ewig nur in der Entzückung des Augenblicks. So schenkt sie Freiheit; auch die schmerzliche, sie um einer anderen willen zu verlassen.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Mittwoch, 28. Oktober 2015

»Du verstehst, das Harte unterliegt.«







Doch der Mann (der Zöllner) in einer heitren Regung
Fragte noch: »Hat er (Laotse) was rausgekriegt?«
Sprach der Knabe: »Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.«

(Bertolt Brecht, Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration; in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, Bd. 9: Gedichte 2, S. 661).

Montag, der 28. Oktober 2013


[27 / 297]
»Im Traum stand ich in irgendeiner Relation zu der jungen Romy Schneider. Es war auch ein Onkel von ihr da, sehr freundlich und sehr böse und sehr gemein, er erinnerte mich ein wenig an Chabrols Inspecteur Lavardin. Er brachte mich durch gezielte Provokationen schließlich dazu, auf ihn zu schießen, genau in dem Moment, als Romy in einem tief dekolletierten roten Kleid auf einem Fahrrad auf ihn zu fuhr. Ich hatte eine Schrotflinte und Romy bekam statt des Onkels die ganze Ladung ab, in den Rücken, das hatte er so beabsichtigt. Er war wirklich sehr gemein und sehr hinterlistig. Ich war untröstlich, eine schöne Frau niedergeschossen zu haben.«
Zu dem Montag, dem 28. Oktober 2013, fanden wir in Hans Köberlins Filmkalenderblattsammelkiste zum Geburtstag von Bernhard Wicki im Jahre 1919 ein Still mit den Kindersoldaten aus Die Brücke (1959),* außerdem erfuhren wir, daß an dem heutigen Datum im Jahre 1967 – da war Hans Köberlin 7½ Jahre alt und bereits eingeschult – pretty woman Julia Roberts geboren worden war, Hans Köberlin sah sie vor allem mit äußerst beeindruckendem Busen im wunderbar zu engen Kleid als Erin Brockovich (Steven Soderbergh, 2000) vor sich.
»Ach …!«
»Der Planet gliederte sich und wurde immerfort griffig. Er wirkte in jener Epoche erotisch.«**
Später am Tag dann wurde Hans Köberlin mit einem Sterbetag konfrontiert, denn er erfuhr von der Frau, daß am Vortag Lou Reed gestorben war, nach Kevin Ayers bereits der zweite tote von ihm geschätzte Musiker in diesem Jahr … Und Hans Köberlin hörte sich zu diesem Anlaß, wie bereits erwähnt, Berlin (1973) und Daevid Allens The Death of Rock & Other Entrances (1982) an.


* Vgl. zu Wickis Film Die Eroberung der Zitadelle (1977) vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Fragment, Berlin 2013, S. 104. Der Film war anscheinend in der Tat verschwunden und war ein Fall für die von dem Filmhistoriker Fritz Güttinger so bezeichnete »Filmlückengeschichte« (vgl. Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek 1996, S. 10; auf Zischlers Buch kommen wir noch zu sprechen). Hans Köberlin hatte den Titel einmal in einem Verkaufsportal im weltweiten Netz gesehen und stante pede bestellt. Er bekam dann aber statt einer VHS-Cassette (eine DVD war sehr unwahrscheinlich) das Programmheft, das es in den siebziger Jahren noch – wie in Oper und Theater – für 50 Pfennige zu den Filmen gab, geliefert. Immerhin: er erstand einen Wechselrahmen und blickte ab da desöfteren mit Wohlgefallen auf Antonia Reininghaus.
** Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007, S. 183.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Dienstag, 27. Oktober 2015

Sonntag, der 27. Oktober 2013


[26 / 298]
»Mir war so ruhig zu Mut, so, als könne mir von nun an nichts Böses mehr, nichts Unschönes mehr begegnen.«*
Plötzliche Einsichten blitzten ihm auf, beim Laufen, beim Schwimmen, während des Frühstücks, während des Duschens, beim Zähneputzen, beim Rasieren, bei seinen Gängen auf der Promenade und auf die Playas und in der ›Tango Bar‹ und im Ort … blitzten also auf und verschwanden wieder. Hans Köberlin kam dazu, über sein Verhalten in Räumen nachzudenken und kam darauf: alles wurde reflexiv.
»Ich sann über mein eigenes Sinnen nach und machte mir über die eigenen Gedanken wieder Gedanken.«**
Er war dabei, alle möglichen Wegvarianten zwischen seinem Haus und dem Strand zu erkunden und legte sich Routen für alle möglichen Anlässe zurecht (später sollte er sein Routenrepertoire nach Norden hin erweitern, aber dazu mehr, wenn es soweit war). Es kristallisierten sich zwei Hauptrouten heraus …
  • der direkte Weg zum Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, überquerte die Ausfallstraße (die nicht, wie er lange geglaubt, zu der durch die Berge des Hinterlands verlaufenden Nationalstraße führte, sondern zu dem nächsten Ort an der Küste), ging in die gegenüberliegende Gasse bis zu einem großen Hotel mit roter Fassade und gelben Balkonen, das nicht sonderlich hoch, aber wuchtig wie ein altes Schlachtschiff (Bronenosets Potemkin, 1925) dalag, ging rechts und dann gleich wieder links und sah von da bereits am Ende der Gasse den (naturgemäß, aber selten auf seinen Bildchen) waagerechten Horizont hinter der schräg nach rechts abfallenden Straße. Wenn er diese Straße am Meer entlang hinabging, dann kam bald der Anfang der Promenade, auf der man, rechterhand flankiert von Hochhäusern die Steilküste entlang zum Strand und zu der ›Tango Bar‹ kam;
  • der kürzeste Weg zum Strand: Hans Köberlin verließ das Haus durch das untere Tor, überquerte die Ausfallstraße, ging sie ein paar Meter hinab, bog dann links in eine Gasse, dann gleich wieder rechts bis zu einer größeren Straße, überquerte sie, ging dann rechts – nicht ohne dabei stets an Gina Lollobrigida zu denken*** – am ›Hotel Esmeralda‹ vorbei entlang eine kleinen Parkplatzes und kam dann schon an der Promenade heraus, an der dann gleich die ›Tango Bar‹ kam. Dazu kam später noch …
  • der längste Weg am Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, ging dann zu übernächsten oder überübernächsten Straße und überquerte dann erst die Ausfallstraße und kam so, vorbei an der ›Casa Wagner‹, die nichts mit dem Bayreuther zu tun hatte, weiter oben an der Steilküste heraus.
Bei seinen morgendlichen Dauerläufen nahm er hin und zurück den direkten Weg zum Meer, er nahm ihn auch, wenn er zum nachmittäglichen Schwimmen ging, zurück ging er dann jedoch den kürzesten Weg zum Strand, der nun, vice versa, der kürzeste Weg zu seinem Haus war, und wenn er nachts an die Promenade ging, um mit der Frau medial zu kommunizieren, dann ging er den kürzesten Weg zum Strand und zurück so lange wie möglich am Meer auf der Promenade und an der Steilküste entlang und an dem Hotelschlachtschiff – seinem potemkinschen Dorf – vorbei.


* Robert Walser, Im Wald; in: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 16: Träumen. Prosa aus der bieler Zeit 1913-1920, S. 14.
** Ebd., S. 13.
*** Wegen Jean Delannoys Verfilmung von Hugos Notre-Dame de Paris aus dem Jahr 1957, in der Anthony Quinn den Quasimodo spielte … Gina Lollobrigida … hier das eben bei Sophia Loren ausgelassene: »… wie sie als schöne Zigeunerin Esmeralda als ein ›natürlicher Mensch‹ inmitten einer bizarren, besessenen und erstickenden (Männer-)Welt erschienen war, der die mühsam unterdrückten Triebregungen wieder erweckt, zugleich aber auch die Fähigkeit zu reiner Liebe schafft« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 84.). Wie bei der Adaption von Ecos Roman, so blieb auch bei dieser Hugoverfilmung der weiblichen Protagonistin der im Roman vorgesehene Tod auf dem Scheiterhaufen erspart, vielleicht aus ähnlichen Motiven, die Schiller dazu veranlaßten, seine Johanna nicht verbrennen, sondern enthaupten zu lassen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Montag, 26. Oktober 2015

Der Weg ist am entgegengesetzten Ziel.


(siehe Der Weg ist am Ziel.).

Samstag, der 26. Oktober 2013


[25 / 299]
Auch für den Samstag, den 26. Oktober 2013, war – dieses Eingeständnis erinnert uns fatal an Telos – die Quellenlage nicht ergiebig. Das Wetter war, wie gehabt, wunderbar (später, als es dann auch hier an der weißen Küste Herbst geworden war, sollte er in dem in seinem Idiom verfaßten kostenlosen Anzeigenblättchen lesen, daß es ein außergewöhnlich lange andauernder Sommer gewesen war),* Hans Köberlin war gelaufen, war geschwommen, hatte gefrühstückt und hatte sich ungeduscht und ohne ein Hemd zu bügeln an den Schreibtisch gesetzt. Nachmittags ging er nochmals Schwimmen und in die ›Tango Bar‹ und zum Abendessen aß er eine Dorade.


* Borges sprach in einem Essay über das Viertel seiner Kindheit von tausenden Tagen, von denen die Erinnerung nichts wisse, von trüben Zonen aus Zeit, die wucherten und danach verwitterten (vgl. Evaristo Carriego; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 2: Kabbala und Tango. Essays 1930-1932, Frankfurt am Main 1993, S. 18) …, und an anderer Stelle, in dem Essay über seinen verstorbenen Freund Evaristo Carriego, von weiteren präzisen und blinden Notizen, die demjenigen, der sie empfange, sorglos die räuberische Arbeit des Erzählen auferlegten, nämlich: Berichte wieder zu Bildern zu machen. Er, Borges glaubte, auf Carriego die chronologische Abfolge (also ihn aufzählend der Abfolge seiner Tage nachzugehen) – die weitgehend unsere Methode ist –, nicht anwenden zu können, weil dessen Leben Gespräch und Umherschweifen gewesen sei. Nun, Gespräche waren Hans Köberlins Sache nicht, und sein Umherschweifen hielt sich in Grenzen, so daß bei uns die Chronologie – soweit wir das überhaupt beurteilen können – ganz gut funktioniert. Dennoch bedienen wir uns ab und an auch der Alternativmethode, die Borges vorschlägt, nämlich Carriegos Ewigkeit, seine Wiederholungen zu suchen, denn nur eine zeitlose, liebevoll verweilende Beschreibung könne ihn einem zurückgeben (ebd., S. 30f.). Und es könnte sogar sein, daß wir, wenn Hans Köberlin seinen Lese- und Schreibmodus gefunden, auch diese Methode bevorzugen müssen, denn zu jedem Tag schreiben: »Über den heutigen Tag gibt es eigentlich nicht viel …« – Aber wir haben ja zum Glück Hans Köberlins Tagesabreißfilmkalender und seine Filmkalenderblattsammelkiste.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Sonntag, 25. Oktober 2015

Der Weg ist am Ziel.

Freitag, der 25. Oktober 2013


[24 / 300]
Von dem Freitag, dem 25. Oktober 2013, gab es wegen der Nachlässigkeit in Hans Köberlins Aufzeichnungen und wegen der Nachlässigkeit in unseren Aufzeichnungen nichts Gewöhnliches und nichts Außergewöhnliches zu berichten, es gab noch nicht einmal aktuelle oder archivierte Filmabreißkalenderblätter. Am Abend sah sich Hans Köberlin die Wiederholung einer Episode aus der Polizeiruf 110-Reihe an: … und raus bist du! – Ein Mord fand in der Müllsammlerszene statt, die Qualität der Episode ging so. Wovon sich Hans Köberlin allerdings persönlich betroffen sah, das war die Darstellung des Schicksals der Architektin, die, durch eine persönliche Krise aus der Bahn geworfen, obdachlos wurde und dann in dem Teufelskreis keine Wohnung – keine Arbeit … steckenzubleiben drohte. Was würde sein, wenn er, Hans Köberlin zurückkehrte … nulla bona? Konnte er damit rechnen, daß Lysa ihm das geliehene Geld zurückgab?*


* »Le tout est de savoir, si un homme qui meurt de male amour ou de male ambition, souffre plus qu’un homme qui meurt de faim. Et moi, je le crois bien sincèrement«, war unter dem 23. Mai 1857 im Journal der Gebrüder Goncourt vermerkt worden (Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 1., S. 469). Nun, bei Hans Köberlin ging es nicht um das Verhungern im eigentlichen Sinn, eher um einen entwürdigenden sozialen Abstieg mangels eigener Etablierungskompetenzen, was ihm mittlerweile manchmal wirklich mehr zusetzte, als die Erinnerung an die emotionale Katastrophe mit Lysa.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Samstag, 24. Oktober 2015

Donnerstag, der 24. Oktober 2013


[23 / 301]
Am Donnerstag, den 24. Oktober 2013, da schaute Hans Köberlin nämlich, nach der Aktualisierung seines Filmabreißkalenders, finster aus der Kapuze seiner Kutte blickend Sean Connery an (aber nicht er hatte an diesem Tag sein Jubiläum, sondern der 1939 geborene F. Murray Abraham, der hier den Inquisitor spielte). Annauds Adaption war ganz nett, aber nicht, wie auf dem Kalenderblatt geschrieben, »eine der besten Adaptionen eines literarischen Stoffes für die Kinoleinwand«, da fielen Hans Köberlin ganz andere ein …*


* Am Samstag, dem 25. Dezember 2010, hatte Hans Köberlin anläßlich einer Revision folgendes in seinem Arbeitsjournal notiert: »The Name of the Rose (1986) – Ein clever geschriebener Schlüsselroman wurde reißerisch in Szene gesetzt … Ich weiß noch, daß wir – H.-P. R. und ich, die wir doch nach dem Dreh und vor dem Kinostart extra einen Ausflug ins Kloster Eberbach bei Eltville gemacht hatten – damals enttäuscht waren, wie glaube ich alle, die den Roman gelesen hatten. Karlrobert Mandelkow hatte in einer seiner Vorlesungen einen Scherz über ›Aristoteles’ zweites Ästhetikbuch‹ gemacht. Eben sah ich den Film ohne Erwartungen und mit einer gewissen Kurzweil. Man muß da nichts zu sagen, man freute sich natürlich, Valentina Vargas’ schönen Arsch und ihre herrlichen Brüste zu sehen und war auch froh, daß sie im Gegensatz zu der literarischen Vorlage nicht verbrannt wurde.« – Auch am Mittwoch, dem 30. September 2015, sollte Hans Köberlin sich anläßlich Aleksey Germans letztem Meisterwerk Trudno byt bogom (2013) in seinem Arbeitsjournal Gedanken über Literaturadaptionen machen: »Ein sehr physischer Film, das schwerste für den Gott war es wohl, sich der Menschen zu erwehren: man klebte ständig wuselnd, umgeben von einem Haufen Scheiße, aufeinander. Nur einmal nachts gab es kurz Ruhe. Ich weiß nicht, ob sich mir die Handlung so erschlossen hätte, wenn ich nicht Fleischmanns Film zuvor gesehen hätte. German hat wie Tarkowskij die Idee eines Romans in eine andere Kunst transformiert, Fleischmann hat wohl den Plot verfilmt … der Unterschied von Transformation und Adaption: wenn es für Buch und Film sehr gut läuft, wenn Buch und Film nichttriviale Kunst sind, dann fällt beides zusammen.« – Wir hatten hier ja bereits zwei wirklich gute Literaturverfilmungen von Volker Schlöndorff, Die Blechtrommel (1979) und Death of a Salesman (1985), wohingegen ihm Un amour de Swann (1984) trotz Jeremy Irons und trotz Ornella Muti als Odette gründlich mißlang (siehe vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 492f.) und die exzellente Umsetzung von Büchners Woyzeck durch Werner Herzog (1979), dann wäre ganz oben auf der Liste Tarkowskijs Solaris (1972) zu nennen, obwohl Lem den Film nicht mochte, weil er ihm zu metaphysisch war, und natürlich Godards Le mépris (1963), Fassbinders Fontane Effi Briest (1974) und seine Berlin Alexanderplatz-Serie (1980), Buñuels Robinson Crusoe (1954), Altmans The Long Goodbye (1973), Claire Denis’ Melvilleverfilmung Beau travail (1999), aber Carax’ Melvilleverfilmung Pola X (1999) –: grauenhaft, trotz Catherine Deneuve, dann – der einzige Film, den Hans Köberlin bisher mit der Frau im Kino gesehen hatte – Il futuro (2013), Alicia Schersons Adaption von Roberto Bolaños Una novelita lumpen. Wir wollen hier garnichterst mit all den Filmen anfangen, die wesentlich besser waren als ihre literarischen Vorlagen, vielleicht bloß: Truffauts Fahrenheit 451 (1966).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Freitag, 23. Oktober 2015

Mittwoch, der 23. Oktober 2013


[22 / 202]
Er arbeite an sich, sagte er sich, er lasse sich nicht gehen, sagte er sich, er merke, sagte er sich, wie sich das, was er gestern erfahren hatte, relativiere und ihn nicht mehr so viel anging wie ähnliche Hiobsbotschaften noch vor ein paar Wochen. Er nahm sich aber dennoch vor, seinen Freunden durch die Blume mitzuteilen, im Hause des Gehenkten nicht mehr vom Strick zu sprechen.*


* Soweit sich Hans Köberlin erinnerte, hatte er diese sprichwörtliche Redensart wohl schon lange gekannt, aber nie selber benutzt. Sie gefiel ihm nun außerordentlich gut. In dem ihm digital zuhandenen fünfbändigen Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrig (Freiburg im Breisgau, 1996) fand Hans Köberlin nichts über die Herkunft der Redensart, bloß ihre französische Entsprechung: »Il ne faut pas parler de corde dans la maison d’un pendu.« (Bd. 5, S. 1574).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Dienstag, der 22. Oktober 2013


[21 / 303]
Als er Abend gegenüber der ›Tango Bar‹ am Strand mit der Frau medial kommunizierte, da kam das Gespräch auch auf die Vergangenheit und die Zukunft – im allgemeinen und im besonderen – zu sprechen. Man könne nicht einfach so angenehm weiterleben wie jetzt und hier, weshalb, so Hans Köberlin, man in der schlechtesten aller möglichen Welten lebe. Es gäbe aber auch das Glück des vergangenen Sommers in der Hauptstadt, wandte sie ein, worauf Hans Köberlin zugab, sie habe ja recht, es sei sein privates Problem, und sein Problem sei: er wolle leben, aber nicht dafür fremdbestimmt arbeiten. Das wiederum, so die Frau lachend, sei durchaus kein privates Problem, sondern ein anthropologisches, zumindest bei manchen der jeweiligen Zeitgenossen.*


* Lichtenberg hatte die Gesellschaft in drei Klassen eingeteilt …
  1. neque ora neque labora,
  2. ora et non labora,
  3. ora et labora.
(Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; in: Schriften und Briefe, München 1968ff., Bd. 2, S. 442f.). ›Non ora et labora‹ hatte er sich anscheinend nicht vorstellen können, wer arbeiten mußte, der mußte wohl auch die Möglichkeit haben, an eine bessere Welt zu glauben, um nicht völlig zu verzweifeln. »Wir von Gottes Ungnade«, listete er die betreffenden (ora et labora) an anderer Stelle auf: »Tagelöhner, Leibeigene, Neger, Fronknechte etc.« (ebd., S. 245).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Montag, der 21. Oktober 2013


[20 / 304]
»Wo man sagen kann, etwas habe schon Homer gesagt oder gar gefragt, ist die Vermutung kaum widerlegbar, es handle sich um uralte Bestände menschlichen Sinnens und Denkens«, hatte Hans Blumenberg treffend festgestellt. – Lese in den Telosfragmenten, daß Clemens Limbularius nach Catania hatte wandern wollen, dem Ort also, an dem sich die Episode mit dem Kyklopen abgespielt, um dort den Kreis seiner seltsamen Abenteuer zu schließen.* Nun, ich habe ein eher ambivalentes Verhältnis zu dem Listenreichen – nicht bloß wegen Adorno & Horkheimer und auch nicht bloß wegen Canetti –, ich mag Odysseus lieber in seiner Gestaltung als Leopold Bloom denn in der Gestaltung als antiker Heros … Was mir aber gefällt ist die Geschichte mit den Namen … Odysseus hatte ja bekanntlich, als ihn der Kyklop Polyphemos nach seinem Namen gefragt, mit einem Wortspiel geantwortet …
»Meinen berühmten Namen, Kyklop? Du sollst ihn erfahren (…) Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle, meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen.«**
Die Homophonie von Odysseus und Oudeis (= Niemand) also rettete dem Listenreichen das Leben, denn die zum Beistand herbeieilenden Genossen des geblendeten Kyklopen zogen wieder ab, als sie hörten, niemand habe dem Polyphemos etwas angetan, und dem Odysseus »lachte die Seele vor Freude, daß sie mein falscher Name getäuscht.«***
Nun, um sich als Niemand ausgeben zu können, was ich ja quasi auch einmal gewollt, siehe: ›Schreiben ohne Leser‹,**** also um sich als Niemand ausgeben zu können, das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung (…), also um sich als Niemand ausgeben zu können, dazu mußte man –: Jemand sein.
Als sich Odysseus aber dann in Sicherheit wähnte, da drängte es ihn doch aus seiner Eitelkeit, die er eigentlich nicht nötig gehabt, seinen wahren Namen preiszugeben – vielmehr die richtige Bedeutung jener Lautfolge preiszugeben, die sowohl in der Lage war, als Name ›Odysseus‹ auf eine Person zu verweisen, als auch als Antwort auf die Frage nach einer Person den Jemand als ›Niemand‹ zu negieren, was schon, wie gesagt, einen soziale Status voraussetzte. Und er, Odysseus, machte das, obwohl er damit sich und seine Kameraden der Gefahr aussetzte, zuguterletzt doch noch von den – nun nach Gehör gezielten – Steinwürfen des Polyphemos zerschmettert zu werden …
»Hör, Kyklope! Sollte dich einst von den sterblichen Menschen jemand fragen, wer dir dein Auge so schändlich geblendet, sag ihm: Odysseus, der Sohn Laërtes’, der Städteverwüster, der in Ithaka wohnt, der hat mein Auge geblendet!«
»Der Hund bespritzt den Stein mit sich und riecht zu seinem Exkrement: Spuren hinterlassen in der Welt, sich in der Welt ein Denkmal setzen, eine Tat, von der noch nach hunderten Jahren gesungen werden wird, ist der Sinn alles Heroismus.«*****
Damit verknüpfte er seine Tat – die Blendung – mit seinem Namen, oder anders ausgedrückt: er übernahm die Verantwortung für seine Handlung. Und vor allem, wie bereits gesagt: um mit der Bedeutung des eigenen Namens spielen zu können, um die eigene Identität verleugnen und wieder annehmen zu können, um schließlich sich selber als den Helden von Troja, den »Städteverwüster«, ausweisen zu können, dafür mußte Odysseus sich seiner selber und der Bedeutung seines Namens – sprich: seiner Rolle in dem Epos – sicher sein, was er konnte, wie die Episode bei den Phäaken, wo er die Ilias hörte, belegte. Und das gleiche mußte, damit er auf das Spiel hereinfallen konnte, für Polyphemos in Hinsicht auf eine Funktion des Namens Odysseus gelten.****** Und da stellte sich heraus, daß Odysseus für Polyphemos ein durchaus signifikanter Jemand war, zwar nicht der »der Städteverwüster«, so doch jener, welcher das ihm prophezeite Schicksal erfüllte …
»Weh mir! Es trifft mich jetzo ein längstverkündetes Schicksal! Hier war einst ein Prophet (…) der weissagte mir alles, was jetzt nach Jahren erfüllt wird: Durch Odysseus’ Hände würd ich mein Auge verlieren.« Polyphemos hatte sich allerdings im Schema getäuscht und war deshalb nicht auf der Hut gewesen …: »Doch erwartet’ ich immer, ein großer und stattlicher Riese würde mich hier besuchen, mit großer Stärke gerüstet! Und nun kommt so ein Ding, so ein elender Wicht, so ein Weichling …«
»Die Kraft der Mücke liegt darin«, notierte Hebbel 1861 in seinem Tagebuch, »daß sie keinen Namen hat.«
Polyphemos war eine Art von Don Quichote: er dachte in falschen Heldenkategorien: List war anstelle seiner – primitiven – Tugenden (Gewalt) getreten.
Diesen ganzen Voraussetzungen für das Spiel mit den Namen entsprach, daß in der Odyssee die Helden nicht eingeführt wurden, daß sie nicht zu Helden wurden, sondern es bereits immer schon gewesen waren (»… man of good fortune …«). Deshalb konnten die homerischen Epen in medias res beginnen, wofür ihn, Homer, Horaz bekanntlich gelobt hatte, in medias res beginnen ohne damit den zeitgenössischen Rezipienten zu irritieren.
Und meine Rezipienten …*******


* Vgl. vom Verf. Telos, Berlin 2013, S. 143, S. 201, S. 360ff. und S. 366f.
** Odyssee, IX.364ff. Die Übersetzung ist die von Voß.
*** Apropos ›Name‹ – da fällt uns eine Parenthese von Georg Seeßlen ein: »interessant, daß Marlene Dietrich als ›Marlene‹ und Greta Garbo als ›Garbo‹ in die Filmkritik und Filmgeschichte eingegangen sind« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Aufl. 1996, S. 48). Zwei Formen, Unnahbarkeit zu benennen … Odysseus stand übrigens nicht bloß bei der Benennung eines grausam prolongierten Heimwegs Pate, sondern auch bei der des lokalen Trailerparks hier im Ort von Hans Köberlins Exil.
**** Außerdem hatte Hans Köberlin sich selber einmal – auch ›quasi‹ – als Name ohne Träger ausgeben wollen, als er seinem nervlich zerrütteten Herausgeber nächtens in der Bibliothek erschienen war, ohne zu ahnen, daß auch er einmal unter den gleichen Zerrüttungen leiden würde (vgl. vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 344ff.). Soviel Chuzpe wie damals wollte Hans Köberlin noch einmal haben … Und besonders stolz war er auf seine Bemerkung, die er auch gleich nach seiner Rückkehr nach Polignano a mare in seine Kladde geschrieben hatte …: »Wer einmal trocken im Nassen gestanden hatte, den konnte in der Hinsicht so leicht nichts mehr erschüttern.« (vgl. ebd., S. 346). Er hatte natürlich die beiden ersten Berichte über die seltsamen Abenteuer des Clemens Limbularius in seiner Basisbibliothek, und er konnte sich manchmal – eitler Geck der er war – nicht enthalten, die ihn selber betreffenden Passagen darin zu lesen. Beim dritten Bericht allerdings …
***** Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften; in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. 1, S. 1746.
****** Siehe Odyssee, IX.513ff. – »Identität wird nur dann verliehen, wenn man auf etwas zurückkommen will (…) Das Identifizierte wird in ein Schema überführt oder mit einem bekannten Schema assoziiert. Es wird bezeichnet und dadurch bestätigt, und dies so, daß es auch für andere Rückgriffe in anderen Situationen denselben Sinn behalten kann.« (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 2. Aufl. 1996, S. 75).
******* »Das führt auf eine weitere Frage: Was macht man mit dem Aufgeschriebenen? Sicher produziert man zunächst weitgehend Abfall. Wir sind aber so erzogen, daß wir von unseren Tätigkeiten etwas Nützliches erwarten und andernfalls rasch den Mut verlieren. Man sollte deshalb überlegen, ob und wie man die Notizen so aufbereitet, daß sie für einen späteren Zugriff zur Verfügung stehen, oder dies einem zumindest als tröstende Illusion vor Augen steht.« (Niklas Luhmann, Lesen lernen; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 12).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Dienstag, 20. Oktober 2015

Sonntag, der 20. Oktober 2013


[19 / 305]
Am Sonntag, dem 20. Oktober 2013, blickte ihm auf dem Kalenderblatt von einem Filmstill aus Georg Wilhelm Pabsts Der Schatz (1923) ein melancholischer Werner Krauß, der an diesem Tag im Jahre 1959 (also knapp ein halbes Jahr vor Hans Köberlins Geburt) verstorben war,* als Svetelenz, der Altgeselle, dessen Kampf um die Tochter des Meisters in einer Katastrophe endete, entgegen. Hans Köberlin hatte von einem gestürzten bösen Monarchen geträumt, der flußabwärts zog, um seinen Thron zurückzuerobern, während sein Nachfolger, von dem Hans Köberlin nach dem Erwachen nicht mehr wußte, ob er besser gewesen war (er glaubte es eher nicht), mit diversen Mitteln seine Macht demonstrierte. Seltsam das … Wahrscheinlich waren das noch Bilder von den fiestas …


* Auch Burt Lancaster war an diesem Tag verstorben, im Jahre 1994, und auf einem älteren Kalenderblatt war aus diesem Anlaß ein Still von Paul Newman aus Altmans Buffalo Bill and the Indians, or Sitting Bullʼs History Lesson (1976) zu sehen, in dem Lancaster eine Nebenrolle gespielt hatte. Wir verehren ihn vor allem als The Birdman of Alcatraz (John Frankenheimer, 1962). Apropos Altman: Short Cuts (1993) würde er sich gerne noch einmal anschauen, so Hans Köberlin.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Montag, 19. Oktober 2015

George Spencer-Brown avant la lettre

Stephen pointed to a basket which a butcher’s boy had slung inverted on his head.
—Look at that basket—he said.
—I see it—said Lynch.
—In order to see that basket—said Stephen—your mind first of all separates the basket from the rest of the visible universe which is not the basket. The first phase of apprehension is a bounding line drawn about the object to be apprehended.

(James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, Chapter V).

Samstag, der 19. Oktober 2013


[18 / 306]
Hans Köberlin nahm nach einem wie gewohnt abgelaufenem Tagesablauf am Abend wieder bloß einen kalten Imbiß zu sich und ging dann …
Under what guidance, following what signs?
… a bispherical moon revealed in imperfect varying phases of lunation through the posterior interstice of the imperfectly occluded skirt of a carnose negligent perambulating female …*
… in das Zentrum des Ortes zu den fiestas moros y cristianos y santísimo cristo.
Er war in dem Glauben, die sich über eine Woche erstreckenden Festivitäten, an deren Ausrichtung über die Hälfte der einheimischen Bevölkerung des Ortes beteiligt schien (eine wohl über Vereine organisierte sozial inkludierende Veranstaltung), erinnere an ein lokales Kapitel aus der Reconquista,** aber es ging um eine bloß lokale Angelegenheit, nämlich um maurische Freibeuter, die am 22. Oktober 1744 die wegen einer Seuche verwaiste Stadt überfallen wollten. Wundersamer Weise, was hieß: mit Unterstützung des lokalen Schutzpatrons, soll es einem hiesigen Jüngling namens Caracol gelungen sein, die für ihn eigentlich viel zu schwer zu bewegenden Stadttore vor dem Ansturm der Freibeuter zu schließen, eine Errettung-der-Stadt-Legende, wie es sie oft gab, sogar mit Federvieh und Eselsgeschrei. Später, als Freunde ihn besuchten und mit ihm per Auto das Hinterland erkundeten, stellte er fest, daß es in jedem Ort hier fiestas moros y cristianos mit einer entsprechenden Heiligenlegende gab und daß diese fiestas wohl das waren, was man in der Region seiner Herkunft ›Kirmes‹ nannte. Komisch das, mit dem Glauben und dem Wunderglauben … eine Ansammlung von eigentlich unglaublichen Geschichten …
Was Hans Köberlin dann in der Hauptladenstraße des Ortes sah, das war der gut dreistündige Einzug der Mauren und der Christen. Es waren, wie gesagt, wohl Vereine oder Ligen, die sich wie die Karnevalsvereine in Hans Köberlins Herkunftsland das ganze Jahr über auf diese Festivitäten vorbereiteten, Sitzungen abhielten, sich in mehrere Lager spalteten, Intrigen spannen, Machtkämpfe ausfochten, Themen und Motti kreierten und schließlich damit begannen, alles für den Umzug – Kostüme, Wagen et cetera – bastelnderweise nach Feierabend und in der sonstigen Freizeit, regelrecht sprichwörtlich in jeder freien Minute …
»Der Verein oder ich!«
… zu erstellen.
Die Christen kamen zuerst. Eine jede Gruppe (auch später dann bei den Mauren) bestand aus einem Musikzug, tanzenden und das Publikum miteinbeziehenden ihrem Thema oder Motiv entsprechend maskierten Leuten zufuß und als Abschluß dem Motivwagen. Man erkannte den kreativen Willen und die große Not, originell sein zu müssen und die dazu an den Haaren herbeigezogenen Assoziationen zum Thema (die Sozialstruktur der Christen im 18. Jahrhundert, die Mode der Christen im 18. Jahrhundert, Offensiv- und Defensivbewaffnung der Christen im 18. Jahrhundert, der Glaube der Christen im 18. Jahrhundert … et cetera et cetera … und das gleiche dann bei den Mauren), die unseren Assoziationen zum Thema bloß um weniges nachstanden (die sexuellen Praktiken der Christen und Mauren im 18. Jahrhundert …). Hans Köberlin dokumentierte das Geschehen fleißig, doch dann war der Akku seines Taschentelephons leer, was schade war, denn die nach den Christen kommenden Maurenmädels zeigten wesentlich mehr Haut.***
Hans Köberlin bewegte sich am Rand des Umzugs gegen die Richtung des Umzug die ansteigende Straße hinauf bis zu jenem Platz, an dem er mit der Frau gesessen hatte (Memories …), erstand dort einen Wein und goutierte den Umzug. Es war wahrscheinlich wirklich das gleiche wie beim Karneval in Noberk oder in der Kreisstadt oder in der Stadt der Narren oder in der Domstadt, aber weniger preußisch und außerdem exotisch, wie gesagt: mit viel Maurinnenhaut bei noch über 20 °C, da kamen die Funkenmariechen mit ihren fleischfarbenen Strumpfhosen bei Temperaturen (wenn es schlecht lief) um den oder nur knapp über dem Gefrierpunkt nicht mit, mochten sie die Beine noch so hoch heben und unter ihren kurzen Röckchen die wegen der Kälte etwas zu groß geratenen Schlüpfer**** zeigen. Außerdem wollte Hans Köberlin sich exaltieren, denn er spürte, daß sein Gemüth nicht so stabil war, wie er es gerne gehabt hätte.
Man hatte anscheinend nicht genug Musikgruppen, denn ständig sah man – wie in jenem Beispiel, welches die Goncourts zur Illustration bei ihrer Widerlegung des Glaubens an die Seelenwanderung herangezogen hatten – bereits bekannte Gesichter mit ihren Instrumenten entgegen der Umzugsrichtung nach oben zu dem Startpunkt des Umzugs laufen, um sich dort vor einer Gruppe erneut zu formatieren.
Der Ausgang der in der Legende verhandelten Geschichte stand ja fest: Gottvater, Gottsohn und Gottheiligergeist und ihre Anhänger siegten über Allah***** und seinen Propheten und deren Anhänger,****** und Hans Köberlin fragte sich, was einen wohl bewog, wenn er schon in einen Trachten- und Brauchtumsverein gehen wollte (oder mußte),******* sich auf die sicher nicht so gut reputierte Seite der Feinde und dazu noch der Verlierer zu begeben. Sicher, wie bereits gesagt, die Maurinnen zeigten mehr Haut, aber Hans Köberlin ging nicht davon aus, daß jemand der hiesigen männlichen und auch weiblichen (eine frivole Vorstellung …!) Bevölkerung dies als Motiv für seine Vereinswahl wirklich in Betracht zog. Vielleicht wurde ja gelost, nicht um das Ergebnis der Schlacht, sondern um die Zuteilung zu den Lagern …
Der Zug ging, wie gesagt, über gut drei Stunden und Hans Köberlin amüsierte sich also und ging anschließend in die Dependance der ›Tango Bar‹ südlich des Peñòn de Ifach an der Promenade der Playa Arenal-Bol (hatten wir bereits erwähnt, daß es eine solche gab?), um dort mit Blick auf das nächtlich tosende Meer noch einen Rotwein zu nehmen.


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 630f.
** Man erinnere sich: Moses (The Ten Commandments, 1956) & Ben Hur (1959) Charlton ›get your gun‹ Heston als El Cid (neben Sophia Loren, vgl. Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Aufl. 1996, S. 83f.: »In den Historienfilmen wie etwa Attila, flagello di dio (Pietro Francesci, 1954) oder, später, El Cid (Anthony Mann, 1961) ist sie (Sophia Loren) von einer mehr aristokratischen Ausstrahlung als Gina Lollobrigida (auf die kommen wir noch); sie ist nicht, wie diese, unbewußte Auslöserin, sondern denkende und handelnde Person im geschichtlichen Drama, und ihre erotische Triebkraft ist an moralischen Rastern gebrochen. War Gina Lollobrigida eine unschuldige Provokation gegen die Hierarchie die Männerwelt (… [das hier ausgelassene präsentieren wir unten, wenn es um Gina Lollobrigida geht]), so entwickelt sich der Loren-Typus zu einer Art der weiblichen Bestätigung des dynastischen Prinzips.«) … – Nebenbei bemerkt: es gab bei allen Vorbehalten gegen Heston drei wirklich gute Filme mit ihm, nämlich der weiter oben bereits erwähnte Film von Orson Welles, Touch of Evil (1958), Franklin J. Schaffners Originalversion von Planet of the Apes (1968) und, an der Seite von Edward G. Robinson, Richard Fleischers Soylent Green (1973).
*** Das wußte auch Mr Bloom an seiner Gattin zu schätzen: »That’s where Molly can knock spots oft hem. It is the blood of the south. Moorish. Also the form, the figure. Hands felt for the opulent.« (Joyce, Ulysses, a. a. O., S. 337).
**** ›Schlüpfer‹ oder ›Slip‹ …? Hm …: es klingt beides gleich gut …
***** »Drei gegen einen …: das ist gemein!« – Es wäre aus christlich dogmatischer Sicht natürlich eine Blasphemie, wenn man hier von einer numerischen Überzahl ausgehen würde. Borges war mit dem Trinitätsdogma hart ins Gericht gegangen und hatte von einer grausigen dreieinigen Gesellschaft und von einem eitlen theologischen Zerberus und von einem Fall von intellektueller Teratologie und von einer Mißgeburt, die nur das Grauen eines Alptraums gebären konnte et cetera gesprochen (vgl. Jorge Luis Borges, Diskussionen; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 2: Kabbala und Tango, Frankfurt am Main 1993, S. 176f.).
****** Hans Köberlin ging nicht davon aus, daß hier jedes Jahr im Oktober die Karten wie bei den Kriegsspielen in Roberto Bolaños El Tercer Reich neu (in Bolaños Roman allerdings nur scheinbar) verteilt wurden.
******* John Cale & Lou Reed, Songs for Drella (1990) …
When you’re growing up in a small town
When you’re growing up in a small town
When you’re growing up in a small town …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Sonntag, 18. Oktober 2015

Freitag, der 18. Oktober 2013


[17 / 307]
An dem Freitag, dem 18. Oktober 2013 – »Every Friday buries a Thursday if you come to look at it.«* – es war, wie bereits erwähnt, Klaus Kinskis Geburtstag im Jahre 1926, am Freitag also las Hans Köberlin nach dem Erwachen und nachdem er auf seinem Laptop einen Traum niedergeschrieben hatte** noch im Bett in Pessls Night Film weiter, bevor er seinen Dauerlauf machte und innerhalb dessen seine Runde (mindestens bis zur gelben Boje) schwamm. Dann ging er wie gehabt an die Herausgabe des Berichts …
Auf den ersten Blick war es so erschienen, als habe der Autor hier etwas mehr zusammengetragen als im vorherigen Kapitel, doch dann sahen wir, daß es sich hauptsächlich um ein überlanges Zitat von Canetti handelt. Wir können uns also nur wiederholen: nun denn …: mehr gibt es nicht …***
… und später wie gehabt zum zweiten Schwimmen und zu den anschließenden cervezas in die ›Tango Bar‹. Und zum Abendessen gab es, wie bereits gesagt, die Dorade.


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 98.
** »Geträumt von einem Detektiv, der eine vermutete eheliche Untreue verifizieren sollte, die sich in der Hauptstadt und der Hauptstadt eines der Beneluxländer abgespielt hatte. Er müsse sehr hohe Spesen berechnen, meinte der Detektiv, wegen der Reisen durch die Beneluxländer.«
*** Vgl. vom Verf. Telos, Berlin 2013, S. 358.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Samstag, 17. Oktober 2015

Donnerstag, der 17. Oktober 2013


[16 / 308]
Nach dem Frühstück las er Lord Jim zu Ende …
And that’s the end. He passes away under a cloud, inscrutable at heart, forgotten, unforgiven, and excessively romantic. Not in the wildest days of his boyish visions could he have seen the alluring shape of such an extraordinary success! For it may very well be that in the short moment of his last proud and unflinching glance, he had beheld the face of that opportunity which, like an Eastern bride, had come veiled to his side.
Wie immer, wenn er einen gutes Stück Literatur, das ihn über längere Zeit begleitet hatte (hier kam noch hinzu, daß Hans Köberlin just da mit der Lektüre begonnen hatte, als er die Frau kennengelernt und auch las, als er anfing, sich in sie zu verlieben), ausgelesen beiseite legte, fühlte er ein Loch in sich, eine Leere, als habe sich ein guter Freund verabschiedet (ein Klischee, wir wissen das, aber es war so).* Jim war, wie bereits angedeutet, zwar der Agonist des Romans, aber der Protagonist war Marlow und sein Erzählmanagement. Und die Figuren, die Hans Köberlin am nächsten gingen, waren jener Kapitän und Beisitzer der Gerichtsverhandlung gegen Jim, dem das Schicksal alles in den Schoß gelegt, der sich aber dennoch von einem Tag auf den andern das Leben genommen – genial, wie hier Conrad offen ließ, welche Rolle der Prozeß gegen Jim und die Person Jims mit ihrem spezifischen Charakter dabei gespielt –, und natürlich Stein, der Jim als Romantiker identifiziert hatte. So einen Mentor oder Mäzen wie Stein wünschte Hans Köberlin sich, der Typ ›materiell erfolgreicher Kenner‹ (Reemtsma), der sich auf seinen materiellen Erfolg nichts einbildete und an ihn, an Hans Köberlin glauben und ihm ein materielles Refugium zur Verfügung stellen würde, damit er unbehelligt von jedwedem Markt und der damit verbundenen Not schreiben könnte …


* Jules de Goncourt (vermutlich) schrieb am 12. November 1861 in das brüderliche Journal, er habe an das von ihm Gelesene eine unvollkommene Erinnerung, wie an Landschaften, durch die er gereist sei und die er wiedererkenne, ohne zu wissen, woran er sie wiedererkenne (Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 3, S. 174). Hans Köberlins Wiedererkennen war meist über Ähnlichkeiten assoziationsgesteuert. Manch Gelesenes lief auch mit und war quasi ständig präsent und mußte nicht erinnert werden, und das waren nicht nur sogenannte ›Stellen‹. Als ein Beispiel fällt uns – abwegig hier, angesichts der Temperaturen – ein, wie Hans Castorp sich auf dem Zauberberg während seiner privaten winterlichen Exkursion verirrt und schon gedacht hatte, sein letztes Stündlein habe geschlagen …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Freitag, 16. Oktober 2015

Mittwoch der 16. Oktober 2013


[15 / 309]
Nach dem Frühstück ordnete er die Fragmente des verfluchten Kapitel XX von Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Nach dem was er da las, schloß er aus unserem Kenntnisstand über sein weiteres Schicksal ganz richtig, daß wir im vergangenen Dezember des vergangenen Jahres das Handtuch geworfen* und uns abgesetzt hatten. Er staunte, wie ungerührt er das lesen konnte. Um Lysa zu schonen, milderte er einige Passagen ab und entfernte sogar manches. Aber er wollte das da nicht so trostlos stehen lassen und hatte eine Idee …
Er hatte bei seiner gründlichen Inspektion aller Teile des Hauses und des Grundstücks in der Garage einen noch ungeöffneten Eimer dunkelbrauner Fassadenfarbe und Pinsel in diversen Größen vorgefunden, er ging nun also die Treppe hinunter zu der Garage, schloß sie auf (›Logo‹ stand, wie gesagt, auf dem betreffenden Schlüssel), holte den Eimer mit der Farbe, suchte sich den dicksten Pinsel und schrieb an die weiße Wand zu der oberen Straße hin …

¡Hans Koberlin vive!

Er dachte im letzten Moment daran, die Punkte des Umlauts in seinem Namen wegzulassen, denn Punkte machte man hier nicht auf die Buchstaben, bloß Striche und Wellen.** Dann nahm er sein Taschentelephon, photographierte die Wand mit jener Formel, die Wolfram Gans nun seit mehr als zwei Jahrzehnten in seiner Landesnervenklinik unablässig wiederholte … er, Hans Köberlin, könnte ja einen Essay schreiben: ›Wolfram oder die Formel‹ … hatte er eigentlich etwas von Deleuze in seine Basisbibliothek aufgenommen? Es wäre sträflich, wenn nicht …
»Ich muß unbedingt die Bände bibliographieren, damit ich den Überblick behalte und nicht wichtiges zu lesen vergesse, denn alles schaffe ich bestimmt nicht … –: zumindest hier nicht, bei all den Sensationen.«
… er photographierte also die Wand mit der Formel (War denn ›Formel‹ außerhalb des Mundes von Wolfram Gans der adäquate Ausdruck?) und mit ihrer Umgebung, damit man Rückschlüsse auf das Mediterrane der Gegend schließen konnte, etwa durch die Häuser im hiesigen Stil, durch eine Palme und durch diese wie improvisiert aussehenden (was sie aber nicht waren) Holzmasten, über die Strom, Telephon und wasweißichsonstnoch an die Häuser verteilt wurde.
Dann ging er zum Kühlschrank, nahm sich trotz der frühen Urzeit eine Flasche Bier (Heineken, das hier in 0,25-Liter-Fläschchen verkauft wurde) –
»Was solls, die eigene Wiederauferstehung muß gefeiert werden!«
– setzte sich an den Schreibtisch, transferierte – dabei (wie sinnig!) Fred Frith’ The Happy End Problem (2007) hörend – die photographierten oder sonstwie als Daten festgehaltenen Blicke auf die Formel auf seinen großen Laptop, suchte sich aus der gemachten Bilderserie das beste Bild aus, veränderte an dem noch mit einem Manipulationsprogramm die Kadrierung ein wenig, brachte den Horizont in die Horizontale, modifizierte den RGB-Modus in einen Graustufen-Modus, probierte mit den Abgleich-, den Helligkeits- und den Kontrastoptionen herum, bis er einigermaßen zufrieden war, skalierte die Druckgröße, öffnete das Dokument mit der Druckvorlage des Textblocks von Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, ging dort auf die Seite 71, kopierte eine Passage, die wir dort geschrieben hatten, ging von da auf die Seite 356, fügte die kopierte Passage ein und ergänzte und modifizierte sie für seine Zwecke …
Wir wollen es also, was das Ende des Hans Köberlin betrifft, eher mit Wolfram Gans denn mit einem, wie sich gezeigt hat, doch nicht ganz so zuverlässigen Autor halten, dem unverwüstlichen Wolfram Gans, der seit zwanzig Jahren in der Landesnervenklinik in der Kindheitsstadt des Busenfreundes und der Geburtsstadt Charles Bukowskis unermüdlich in der Manier eines Cato Censorius oder in der Manier eines Liebhabers der Musik des bereits in einer Fußnote erwähnten Elvis Presley ununterbrochen Zeugnis davon ablegt, daß Hans Köberlin lebe.
Dann fügte er eine Fußnote ein – die 887.*** – und schrieb dort …
Vgl. oben, S. 71. Außerdem erreichte uns von unserem Gewährsmann im Mediterranen aus dem Land des Ritters von der traurigen Gestalt und dem Land des genialen Luis Buñuel, an jener Küste (allerdings etwas weiter südlich), an welcher auch der nicht minder geniale Roberto Bolaño sein Exil verbracht untenstehende Photographie einer Wandschmiererei an der weißen Küste …
… und fügte schließlich als Abschluß dieses verfluchten Kapitel XX das eben angefertigte Bild darunter.
»Strich drunter!«
»Das war einmal eine Selbstreferenz!«****
»… lisant au livre de lui-même …«*****
Sehr zufrieden mit sich und seiner Aktion trank er sein Bier aus und holte sich ein neues Fläschchen Heineken. Gern hätte er jemand von seinem Coup berichtet, aber außer der Frau durfte er niemandem sagen, daß er sich selber wiedererweckt hatte. Vielleicht, so überlegte er sich, vielleicht sollte er auch Berichte schreiben … sein Schreiben operativ schließen … er berichtete dann über das Berichten … oder nein: er berichtete über sich selbst beim Berichten …******
»Und was wäre dann unsere Rolle dabei?«*******


* Boxer und Bergsteiger erwiesen sich als gleich ergiebige Metaphernlieferanten.
** Wenn Hans Köberlin seinen Namen dem hiesigen Idiom anpassen würde, dann wäre sein Vorname Juan. Er würde sich dann einen dem seinen ähnlichen Nachnahmen suchen; mit dem K hatten sie es hier nicht so, also etwas mit C, Co …; und er schaute in seinem Taschenwörterbuch …
  • Señor Juan Cobalto oder
  • Señor Juan Cobertera oder Cobertizo oder Cobertor oder Cobertura oder
  • Señor Juan Cobija oder Cobijar oder Cobiarse oder
  • Señor Juan Cobra oder
  • Señor Juan Cobrable oder Cobradero oder Cobrador oder Cobranza oder Cobrar oder Cobrarse oder
  • Señor Juan Cobre oder Cobrizo oder
  • Señor Juan Cobro …
… also einen Nachnamen mit drei oder vier Silben … Señor Juan Cobertura (Hans Deckung) …
*** Das ergab auf dem in dem Haus gefunden solarenergiebetriebenen Taschenrechner (so ein Exemplar wie es zu Werbezwecken verschenkt wurde) einen Fußnotenkoeffizienten von 2,491573033707865 (insgesamt kam Telos auf einen Fußnotenkoeffizienten von 2,459715639810427).
**** »Das vermeintlich fragile postmoderne Subjekt wird zum Superautor, der den gesamten Prozeß – Produktion, Promotion, Distribution, Rezeption – de facto mitkontrolliert und steuert.« (Matteo Galli, The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hrsg. v. Christian Demand, Heft 776, 68. Jahrgang, Stuttgart Januar 2014, S. 62), oder, etwas drastischer artikuliert: »… sein eigener Zuschauer zu sein, etwa in dem Sinn, wie ein Betrunkener einem Stockbetrunkenen begegnet und von dem Anblick wieder fast nüchtern wird.« (Handke, Der Große Fall, Berlin 2011, S. 218).
***** Stéphane Mallarmé, Hamlet et Fortinbras.
****** Vgl. Thirlwells Anmerkungen im Kontext von Puschkin, alles könne wie Fiktion behandelt werden, das einzige, was man dazu benötige, sei das richtige Vorwort, und alles was man brauche, sei ein Erzähler, und schließlich sei jeder Erzähler erfunden (Adam Thirlwell, Der multiple Roman. Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen & mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern & und anderen Phantasiewesen, Frankfurt am Main 2013, S. 71).
******* Goethe, Gedichte. Nachlese:
Was ich am meisten besorge: Bettina wird immer geschickter,
  Immer beweglicher wird jegliches Gliedchen an ihr;
    Endlich bringt sie das Züngelchen noch ins zierliche F …,
      Spielt mit dem artigen Selbst, achtet die Männer nicht viel.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Dienstag, der 15. Oktober 2013


[14 / 310]
»Ich habe geträumt, daß ich mir für siebenEurofünfundneunzig die CD In the Court of the Crimson King (1969) gekauft habe …
Cat’s foot iron claw
Neuro-surgeons scream for more
At paranoia’s poison door.
Twenty first century schizoid man …
Das Ambiente dieses Einkaufs war eine Großstadt mit mediterranem Flair, es war aber kein Sommer. Diese Traumumgebung verdankte sich bestimmt den kurzen Aufenthalten in den beiden Städten während der Rückreise vor ein paar Tagen, besonders der Besuch des ›El Corte Inglés‹ in der Hauptstadt der autonomen Region. Das Album von King Crimson ist ein Klassiker, vielgehört in meiner Jugend und auch danach noch ab und an …
Said the straight man to the late man
Where have you been
I’ve been here and I’ve been there
And I’ve been in between.
… ein Klassiker sicher, aber woher gerade diese Reminiszenz an die Vergangenheit? Warum nicht … etwa: The Dark Side of the Moon? – Von Albano schrieb Jean Paul im Titan, fällt mir dabei ein, daß der ›noch nicht ein Schuldner der Vergangenheit, sondern ein Gast der Gegenwart‹ sei.* Da muß ich wieder hinkommen.«
Dies also notierte Hans Köberlin, noch im Bett liegend, auf dem kleineren der beiden Laptops in sein Arbeitsjournal.
Es begann sich nun – am dritten Tage konnte man das bereits sagen – ein Muster im Tagesablauf des Hans Köberlin zu etablieren, das sich mit ein paar kleinen Abweichungen über die nächsten zwei Wochen der Herausgabe und Kommentierung des Telosfragments so halten würde, nämlich …
  • erwachen,
  • dauerlaufen mit schwimmen,
  • frühstücken, duschen,
  • Arbeit am Fragment und schließlich
  • nochmals schwimmen und ein Besuch der ›Tango Bar‹.**
Zum Abendessen briet er sich nach bewährter Tradition (was bei ihm jetzt soviel hieß wie: wie mit der Frau zusammen) in Olivenöl mit reichlich Knoblauch und leider nicht sehr scharfen Peperoni fünfzehn Langostinos, die er dann zu einer Flasche Weißwein in der bereits fortgeschrittenen Abenddämmerung bei Kerzenschein – der sich für solch eine Fummelesserei jedoch als nicht ausreichende Lichtquelle erwies – auf der Dachterrasse verzehrte.


* Jean Paul, Titan; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, München 1959ff., 1. Abt.: Erzählende und theoretische Werke, Bd. 3, S. 269. – Aktuell nicht ganz passend, wohl aber zu Hans Köberlins Exil und zu dessen Auslöser passend fiel ihm ein Dialog aus einem kurzen Prosastück von Borges ein: Abel und Kain begegneten sich darin nach dem Todschlag, und Kain bat seinen Bruder um Vergebung, woraufhin jener fragte, ob er, Kain, ihn, Abel, getötet habe oder ob es umgekehrt gewesen sei, er erinnere sich nicht mehr. Darauf sprach Kain, jetzt wisse er, daß er, Abel, ihm vergeben habe, denn vergeben sei vergessen, was Abel, das Prosastück damit abschließend, bestätigte, um dann noch Kains Einsicht mit der Weisheit abzurunden, nur solange die Reue dauere, dauere die Schuld (vgl. Jorge Luis Borges, Legende; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 12: Schatten und Tiger, Frankfurt am Main 1993, S. 86).
** Eine vom Prinzip her ähnliche, aber in den, die nichtliterarischen Aspekte betreffenden Punkte arg divergierende Auflistung erstellte auch der Erzähler-Protagonist (?) in Flann O’Briens At Swim-Two-Birds, um anschließend als weiteres Beispiel den typischen Tagesablauf einer jungen Methodistin und den typischen Tagesablauf einer fiktiven gälischen Sagengestalt anzufügen, vgl. Flann O’Brien, In Schwimmen-zwei-Vögel, Zürich 1989, S. 209ff.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Über den Umgang mit objets trouvés

Höchst liebevoll und aufmerksam muß der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, ein Baum, eine Hecke, eine Schnecke, eine Maus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein armes weggeworfenes Fetzchen Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes gutes Schulkind seine ersten ungefügen Buchstaben geschrieben hat, studieren und betrachten. Die höchsten und niedrigsten, die ernstesten und lustigsten Dinge sind ihm gleicherweise lieb und schön und wert.

(Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 5: Der Speziergang, S. 51).

Fritz Lang über Hölderlin in Jean-Luc Godards »Le mépris«


Montag, der 14. Oktober 2013


[13 / 311]
Um sein Dachterrassenfrühstück in größerer Ruhe zelebrieren zu können, nahm Hans Köberlin den kleineren seiner beiden Laptops und sein Exemplar des Lord Jim mit nach oben. Er machte das, wie gesagt, bewußt nur deswegen, um mehr Ruhe in seine Absichten zu bringen, nicht also mit einer konkreten Absicht, zu lesen und oder oder zu schreiben, sondern bloß um dann, wenn er es wollte, lesen und oder oder schreiben zu können und dadurch, mit diesem Bewußtsein der Möglichkeit, ruhiger auf der Dachterrasse sein Frühstück einnehmen zu können, also Kontemplation durch Potentialität, seltsam, das.
Auf dem aktuellen Filmkalenderblatt war anläßlich Udo Kiers Geburtstag am 14. Oktober 1944* Hanna Schygulla (»Die Schygulla!«, wie Gerhard Polt eindringlich zu sagen pflegte) in Fassbinders Lili Marleen (1981) zu sehen.**


* Die weiteren Geburtstage waren der von Lillian Gish im Jahre 1896 – Hans Köberlin kannte sie nur als resolute ältere Dame, nämlich als Rachel Cooper in Charles Laughtons The Night of the Hunter (1955) – und der im Jahre 1927 von Lord Brett Sinclair und James Bond No 2 (1973-1985), also der von Roger Moore.
** »Man kann es sich nicht immer aussuchen wie man leben will, wenn man überleben will.« So Willie oder Lili. – Wie weit in Richtung Affirmation kann man mit dieser Haltung gehen? Fassbinder zeigte seine Willie oder Lili als eine Frau, die sich angesichts des Führers, der sie hofierte, ihre Unschuld bewahrte, den Liebesverrat beging dagegen Robert, der an ihr zweifelte und eine Andere heiratete. Um das Ungleichgewicht ›NS-Star – Geliebte eines Juden‹ etwas zu mildern, ließ Fassbinder Lili Dokumente über Konzentrationslager aus Polen in die Schweiz schmuggeln. Er hätte auf diese Abmilderungen verzichten sollen und die Unschuld in der Hölle mit dem Verrat in den sicheren Gefilden ungemildert konfrontieren und kein Historienstück machen sollen, sondern eine Tragödie. Das Ganze geriet so ein wenig zum Kostümschinken (wie auch ein wenig Lola (1981); mit seinen beiden Filmen danach, Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) und Querelle (1982) kam Fassbinder aus dieser Sackgasse – wobei er nie wirklich schlecht war; er konnte nicht wirklich und auch nicht bloß annähernd wirklich schlecht sein – wieder heraus), es war nicht eigentlich sein Weg, der da gegangen wurde, war unser Eindruck. Am Ende gab es einen Verweis auf den zuvor gedrehten Berlin Alexanderplatz (1980), der quasi der gelungene Endpunkt dieses Stils hätte sein müssen. Mit dem von der Gestapo inhaftierten Robert teilte man als Zuschauer während des Films die Folter, ständig das titelgebende Lied hören zu müssen. – Godard nahm übrigens die Szene, in der der Nazikulturbonze (Karl-Heinz von Hassel, der Darsteller eines späteren Tatortkommissars aus der Bankstadt, der in der Hansestadt das gleiche Café wie Hans Köberlin zu besuchen pflegte) mit Lili zu einer Audienz beim Führer die Treppe der Reichskanzlei hochstieg, in seine Histoire(s) du cinéma (1988-2000) auf. – Ein älteres Kalenderblatt aus Hans Köberlins Filmkalenderblattsammelkiste zu diesem Datum zeigte My Son, My Son, What Have Ye Done in dem wohl Udo Kier auch mitgespielt hatte, wie Hans Köberlin (zurecht) vermutete. Er kannte den Film nicht und hatte das Blatt wegen des Titels und eines eindrucksvoll blickenden jungen Mannes aufgehoben. Neugierig geworden schauten wir nach und sahen mit Erstaunen, daß es sich um einen Film von niemand anderem als Werner Herzog, dessen Schaffen wir doch verfolgen, aus dem Jahr 2009 handelte. Das Gesicht gehörte Michael Shannon, der in dem Film einen Sohn spielte, der den Kontakt mit der Realität verloren und seine Mutter niedergemetzelt hatte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Dienstag, 13. Oktober 2015

»Zu bitten (…) wäre Wahnsinn«

Der Fortgang der Zeit ist ein Gewebe aus Wirkungen und Ursachen, daher heißt eine noch so kleine Gnade erbitten darum bitten, es möge bereits gerissen sein. Niemand verdient ein solches Wunder.

(Jorge Luis Borges, Ein Gebet; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 12: Schatten und Tiger, Frankfurt am Main 1993, S. 87).

Sonntag, der 13. Oktober 2013


[12 / 312]
Niklas Luhmann hatte einmal als »die Magie der Dinge« bezeichnet, »daß sie sind, wie sie sind« – nun: für Hans Köberlin sollte nun eine Zeit beginnen, in der, zumindest in der Hinsicht des so-Seins, die Magie der Dinge gebrochen war.
»The owls are not what they seem.«*
Er erwachte am Sonntag, dem 13. Oktober 2013, nach seiner ersten Nacht allein im Exil, er erwachte desorientiert, durch die offene Luke der Glasfront des leeren Wintergartens** und durch das Gitter vor seinem offenen Schlafzimmerfenster in einen tiefblauen, von Wedeln einer Palme akzentuierten Himmel starrend und neben sich, wo sonst die Geliebte gelegen, ins Leere greifend – aber was hieß hier ›sonst‹?! Es waren bloß sechs Nächte gewesen!


* David Lynch, Twin Peaks (1990f.).
** »Ein erster Wintergarten – verglaster Raum mit Blumenparterres, Spalieren und Springbrunnen, zum Teil unterirdisch, an der Stelle wo 1864 im Garten des Palais-Royal (und auch jetzt noch?) das Bassin war. Angelegt 1788«, sollte Hans Köberlin später bei Benjamin lesen (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 5, S. 92).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Montag, 12. Oktober 2015

»One need not fear about the future of music.«

There is no such thing as an empty space or an empty time. There is always something to see, something to hear. In fact, try as we may to make a silence, we cannot. For certain engineering purposes, it is desirable to have as silent a situation as possible. Such a room is called an anechoic chamber, its six walls made of special material, a room without echoes. I entered one at Harvard University several years ago and heard two sounds, one high and one low. When I described them to the engineer in charge, he informed me that the high one was my nervous system in operation, the low one my blood in circulation. Until I die there will be sounds. And they will continue following my death.

(John Cage, Experimental Music; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 8).

Samstag, der 12. Oktober 2013


[11 / 313]
Die Omnibusfahrt dauerte mehr als drei Stunden, da der Omnibus nicht über die Autobahn, sondern über die Nationalstraße an der Küste entlang fuhr und in jedem Ort mindestens einmal Station machte. Hans Köberlin konnte nicht eindösen und war zu unkonzentriert, um im Lord Jim weiterzulesen. So sammelte er Eindrücke von den Mitreisenden (schöne Frauen waren nicht dabei) und von der Landschaft und den Orten, deren Boden, so kam es ihm in den Sinn, er wohl nie betreten würde, eine Annahme, mit der er bei drei oder vier Orten falsch liegen sollte.
Nach dem gestrigen traurigen Abschied auf dem nach einem populären Autoren benannten Flughafen und nach der Ausnahmesituation, die die daran anschließende Reise und Übernachtung in der Hauptstadt der autonomen Region gewesen war, erreichte Hans Köberlin, nachdem er unterwegs noch ein Brot erstanden, eher desolat sein Domizil über jene Wege, die er mit der gestern verabschiedeten Frau zu gehen gepflegt.* Nun wurde es also ernst für unseren Protagonisten, oder zumindest: etwas ernster. Es war für Hans Köberlin quasi ein zweiter, diesmal ohne durch die geliebte Frau gebremster, Aufprall.


* Vgl. Hugh Hoppers Memories (1967; vor allem interpretiert von Material (One Down, 1982) mit der blutjungen Whitney Housten) …
We used to walk these streets together …
und folgende Zeilen aus Borges’ Gedicht Trofeo
y en gradual soledad
al volver por la calle cuyos rostros aún te conocen,
se oscureció mi dicha, pensando
que de tan noble acopio de memorias
perdurarían escasamente una o dos.
Hans Köberlin hatte zuerst verstanden, die Straße hätte Gesichter, was er sehr poetisch fand (ein Gesicht wäre noch besser), dann aber kam er darauf, daß Borges wohl die Gesichter der Bewohner der Straße gemeint hatte.
… und bei Peter Handke …
den Weg des, der anderen zu wiederholen, das hätte vorzeiten einmal zum ›Liebesdienst‹ gehört.
(Der Große Fall, Berlin 2011, S. 257f.).
… und natürlich Walt Whitmans berühmtes Poem …
Once I pass’d through a populous city, imprinting my brain, for future use, with its shows, architecture, customs, and traditions;
Yet now, of all that city, I remember only a woman I casually met there, who detain’d me for love of me;
Day by day and night by night we were together,—All else has long been forgotten by me;
I remember, I say, only that woman who passionately clung to me;
Again we wander—we love—we separate again;
Again she holds me by the hand—I must not go!
I see her close beside me, with silent lips, sad and tremulous.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IV [Transfer complete], 10. bis 12. Oktober 2013).

Sonntag, 11. Oktober 2015

»… richtig, das heißt realitätsgerecht«?

Der Prozeß der (Selbst-)Sozialisation kann mithin als Prozeß der Bildung von Erwartungen begriffen werden, die ihrerseits dann regulieren, welche Ereignisse für das System möglich sind.
Erwartungen haben ihre wichtigste Eigenschaft darin, daß sie enttäuscht werden können. Sie markieren das Erwartete als kontingent; und wenn etwas in der Modalität des Notwendigen erwartet wird, so ist Notwendigkeit nichts anderes als Alternativenlosigkeit, als negierte Kontingenz. Es ist also nicht die Stabilität, sondern gerade die Labilität der Strukturen, die ihre Funktion im Persönlichkeitsaufbau und in der Genese von ich-Bewußtsein erklärt.
Erwartungen ermöglichen nämlich einen Doppeltest: Wenn sie erfüllt werden, kann dies kein Zufall sein, sondern indiziert den Realitätswert der Erwartung. Wäre die Erwartung ein rein internes Konstrukt, wären Erfüllung und Enttäuschung gleich wahrscheinlich. Man kann an der Bestätigung von Erwartungen also ablesen, daß man richtig, das heißt realitätsgerecht, erwartet hatte (ohne daß daraus folgen würde, daß die Erwartung ein »Bild« der Umwelt in das System transferiert). Aber auch die Enttäuschung von Erwartungen kann als Test benutzt werden. Wenn die Erwartung trotz Enttäuschung durchgehalten werden kann, beweist dies Ich-Stärke. Man bildet aus diesem Anlaß Sollwerte und Normen und bescheinigt sich selbst die Kraft, die projektierte Erwartung kontrafaktisch auch im Enttäuschungsfalle durchzuhalten.

(Niklas Luhmann, Sozialisation und Erziehung; in: Schriften zur Pädagogik, hrsg. und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt am Main 2004, S. 115).

Geduld – Hoffnung der Verdammten

»For ever! For all eternity! Not for a year or for an age but for ever. Try to imagine the awful meaning of this. You have often seen the sand on the seashore. How fine are its tiny grains! And how many of those tiny little grains go to make up the small handful which a child grasps in its play. Now imagine a mountain of that sand, a million miles high, reaching from the earth to the farthest heavens, and a million miles broad, extending to remotest space, and a million miles in thickness: and imagine such an enormous mass of countless particles of sand multiplied as often as there are leaves in the forest, drops of water in the mighty ocean, feathers on birds, scales on fish, hairs on animals, atoms in the vast expanse of the air: and imagine that at the end of every million years a little bird came to that mountain and carried away in its beak a tiny grain of that sand. How many millions upon millions of centuries would pass before that bird had carried away even a square foot of that mountain, how many eons upon eons of ages before it had carried away all? Yet at the end of that immense stretch of time not even one instant of eternity could be said to have ended. At the end of all those billions and trillions of years eternity would have scarcely begun. And if that mountain rose again after it had been all carried away, and if the bird came again and carried it all away again grain by grain: and if it so rose and sank as many times as there are stars in the sky, atoms in the air, drops of water in the sea, leaves on the trees, feathers upon birds, scales upon fish, hairs upon animals, at the end of all those innumerable risings and sinkings of that immeasurably vast mountain not one single instant of eternity could be said to have ended; even then, at the end of such a period, after that eon of time the mere thought of which makes our very brain reel dizzily, eternity would scarcely have begun.«
(James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man).

Aber es käme immer noch eine Zahl dabei heraus, wenn auch eine ziemlich große. ›Ewigkeit‹ ist jedoch keine Bezeichnung für eine Quantität, sondern eine Bezeichnung für eine Qualität.

Freitag, der 11. Oktober 2013


[10 / 314]
Es war in der Tat das erste Mal in seinem Leben, daß er freiwillig (wenn auch nicht ohne Not) die Trennung von einer geliebten Frau inkaufgenommen hatte. Er blickte noch einmal zurück, seine Eurydike jedoch, wie er bei seinem Blick zurück sah, tat dies nicht, beziehungsweise: sie hatte es da getan als er es nicht getan, wie sie ihm später erzählte. Hans Blumenberg hatte völlig zurecht die »Wegtrennung« zu den »unversöhnlichen Grundformen des Daseins« gezählt.
Apropos Orpheus: an dem Tag dieses sehr traurigen Abschieds vor fünfzig Jahren, am 11. Oktober 1963 also (da war Hans Köberlin dreieinhalb Jahre alt gewesen), da war, wie Hans Köberlin nach seiner Heimkunft von dem Filmkalenderblatt, das Jean Marais in Orphée (1950) zeigte, erfuhr, der große Jean Cocteau verstorben. Auf dem Filmkalenderblatt war statt des Kreuzes irrtümlich (von Hans Köberlin dann mit Bleistift korrigiert, bevor er es in seine Filmkalenderblattsammelkiste legte) ein Asterisk vermerkt.* Hans Köberlin erinnerte sich an Godards heikles – da die beiden Freunde sich ja vertodfeindet – Vorwort zu der Ausgabe mit Truffauts Briefen, wie der ein Bild von der Premiere von Les 400 Coups (1959) bei den Filmfestspielen in Cannes beschworen, drei Generationen nebeneinander: Jean-Pierre Leaud, Truffauts alter ego als heranwachsender Antoine Doinel, François Truffaut selber und dessen Mentor Jean Cocteau … Und enden ließ Godard sein Vorwort in der Manier von Borges, indem er schrieb …
»François est peut-être mort. Je suis peut-être vivant. Il n’y a pas de différence, n’est-ce pas.«
Hans Köberlin fiel plötzlich ohne besonderen Grund ein, daß er sich vorgenommen hatte, eine Bibliographie der mitgenommenen Bücher anzulegen.


* Geboren wurde an diesem Tag im Jahre 1929 Liselotte Pulver, von deren Filmen Hans Köberlin bloß Piroschka (1955), die Adaptionen von Manns Felix Krull (1957) und – an der Seite des späteren Kommissar Haferkamp, Hansjörg Felmy – der Buddenbrooks (1959), wegen Wolfgang Neuss Das Wirtshaus im Spessart (1958) und natürlich – das einzige Meisterwerk in dieser Aufzählung – Billy Wilders One, Two, Three (1961) erinnerte.
** François Truffaut, Briefe 1945-1984, zusammengestellt von Gilles Jacob und Claude de Givray, Köln 1990, S. 7f. Bei Godards »peut-être«, das sich auf Truffauts Tod bezog, handelte es sich, wie ein Faksimile dieser Zeilen im Buch zeigte, um eine Einfügung … wir würden gerne wissen, wann Godard sie gemacht hatte …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IV [Transfer complete], 10. bis 12. Oktober 2013).