Montag, 29. Juni 2015

Did you see I’m running?

Zur Urteilskraft

Wir, die wir schreiben, messen die Qualität eines Buches in seinem Nährwert.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Metamorphoseon, S. 250).

Mittwoch, 24. Juni 2015

NO EXIT

am Mittwoch, dem 12. Februar 2014, um 18Uhr42

Dienstag, 23. Juni 2015

Was ist Wahrheit?

Blumenberg über das Uhrengleichnis von Schopenhauer: »Der einsame Besitzer der wahren Zeit in einer Stadt mit lauter falsch gehenden Turmuhren ist kein Weiser, sondern ein Narr.«

Mutter Natur

Hebbel fragte sich am 29. November 1836 in seinem Tagebuch, »ob ein mystisches Gefühl im Menschen liegt, was ihm sagt, ob die öconomisch=umsichtige Natur ihn schon in ihre Pläne verwendet hat, oder nicht?« Das Gefühl mag ja da sein, ich glaube aber nicht, daß es einen Grund außer in dem es Fühlenden hat, denn die Natur hat keinen Plan und agiert auch nicht ökonomisch. Manche sprechen vom »Zufall« und tun dabei so, als wäre das etwas Anrüchiges, was nicht statthaben darf. Und was meinte Hebbel mit »schon«? Wenn schon, dann doch immer, oder?

Montag, 22. Juni 2015

Sinn?

Die Frau: Am Ende des achten Gesangs der Odyssee gibt der König der Phäaken Alkinoos eine Antwort auf die Frage, warum ein Held all die Unbill ertragen muß. Und das kam so: Alkinoos sieht seinen Gast, dessen Identität er noch nicht kennt, erschüttert. Die Erschütterung rührt daher, daß Odysseus (…) mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert wird, als während des Gastmahls der blinde Sänger Demodokos ein Epos vom trojanischen Krieg vorträgt. Der Held ist erschüttert, als er mitanhört, was er selbst doch miterlebt hat, es ist, als käme ihm jetzt erst zu Bewußtsein, was alles er da durchgemacht hat, vor Troja und wegen Troja. Daraufhin also Alkinoos …
Alkinoos, König der Phäaken: Sage mir auch, was weinst du, und warum trauerst du so herzlich, wenn du von der Achäer und Ilions Schicksale hörest? Dieses beschloß der Unsterblichen Rat und bestimmte der Menschen Untergang, daß er würd ein Gesang der Enkelgeschlechter.
Die Frau: Das Schicksal und die Widrigkeiten, die den Helden begegnen, werden dadurch motiviert, daß sie den späteren Generationen als Stoff für ihre Geschichten dienen können …
Der Mann: Homer war REALIST. (…)
Lionel Trilling: … die grausame Irrationalität der Bedingungen des menschlichen Lebens, die von einem Idioten erzählte Geschichte, die kindischen Götter, die uns nicht um der Strafe, sondern um des Zeitvertreibs willen martern …
Die Frau: Es ist klar, daß diese Erklärung auf Dauer nicht haltbar war. Denn die Motive lagen hier quasi außen …


* Hans Köberlin, »… schön ist das nicht …« oder: Apologie des Mysteriums; in: Arbeitsgruppe »menschen formen« (Hg.), Ver-Schiede der Kultur. Aufsätze zur Kippe kulturanthropologischen Nachdenkens, Marburg 2002, S. 271f.; siehe dort auch die Nachweise der im Hörstück eingefügten Zitate. Ein ähnliches Beispiel – nicht für die oben aufgezählten re-entries, sondern für den Hohn metaphysischer Instanzen – war natürlich noch die Geschichte Hiobs, dessen Leiden einzig einer Wette Jahwes mit seinem Widersacher entsprangen (siehe Hi 1.6ff.).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Freitag, 19. Juni 2015

Was passiert

Bei guten Büchern ist die Handlung völlig wurscht, wenn Sie Handlung wollen, gehen Sie zum Catchen.

(Harry Rowohlt, vgl. In Schlucken-zwei-Spechte. Harry Rowohlt erzählt Ralf Sotscheck sein Leben von der Wiege bis zur Biege, Berlin 2002, S. 59).

Dienstag, 16. Juni 2015

Eine Kompetenz

MARTINA: (…) ich kann mächtich schweign, wenn’s an der Zeit iss …

(Arno Schmidt, Abend mit Goldrand. Eine MärchenPosse. 55 Bilder aus der Lä/Endlichkeit für Gönner der VerschreibKunst, Frankfurt am Main 1975, S. 30).

Auch dies beim Aufräumen gefunden …

The past is never dead. It’s not even past.
William Faulkner

Zwei frühe Selfies …

Wiesbaden 1986 (?)
Wiesbaden 1987

Die 80er Jahre waren nicht so schlecht wie ihr Ruf jetzt annehmen läßt!

John Cage: Afternote to LECTURE ON NOTHING

In keeping with the thought expressed above that a discussion is nothing more than an entertainment, I prepared six answers for the first six questions asked, regardless of what they were. In 1949 or '50, when the lecture was first delivered (at the Artists' Club as described in the Foreword), there were six questions. In 1960, however, when the speech was delivered for the second time, the audience got the point after two questions and, not wishing to be entertained, refrained from asking anything more.
The answers are:
  1. That is a very good question. I should not want to spoil it with an answer.
  2. My head wants to ache.
  3. Had you heard Marya Freund last April in Palermo singing Arnold Schoenberg's Pierrot Lunaire, I doubt whether you would ask that question.
  4. According to the Farmers' Almanac this is False Spring.
  5. Please repeat the question …
    And again …
    And again …
  6. I have no more answers.
(John Cage, Silence. Lecture on Nothing; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 126).

Today is Bloomsday!

Heute ist Bloomsday, ein Feiertag, es gilt aber auch, zweier Verstorbener zu gedenken (es ist ja auch der Tag von Paddy Dignams Beisetzung): am 16. Juni 1955 starb in Triest James Joyces Bruder Stanislaus, seines Bruders Hüter …: eine seltsame Koinzidenz … und hätte Harry Rowohlt noch einen Tag gewartet, dann wäre der Bloomsday sein Todestag gewesen … »Gin Tonic – das war für mich der Inbegriff der Zivilisation, mit klirrenden Eiswürfeln zu heißen Soul-Rhythmen die Knochen geschüttelt. Danach war wieder eine Woche lang Beschaulichkeit angesagt.« (In Schlucken-zwei-Spechte. Harry Rowohlt erzählt Ralf Sotscheck sein Leben von der Wiege bis zur Biege, Berlin 2002, S. 210).

*

Und als Hans Köberlin nach dem Duschen schließlich am Schreibtisch saß und sich gerade den Kierkegaard vornehmen wollte, da klingelte es, das dritte Mal, nach dem Gemeindemann und nachdem einmal – wir haben vergessen, das zu erwähnen – seine vom Busenfreund per Eischreiben geschickte neue EC-Karte angekommen war, und wie die beiden Male zuvor erschrak Hans Köberlin. Es war diesmal keine neuerliche Umfrage ob des Status der Häuser (initiiert etwa von der Guardia Civil nach deren Inquirieren neulich), es war wieder el cartero, der ihm das bestellte Exemplar von James Joyces Ulysses im Originalidiom brachte … Wordsworth Classics … auf dem schwarzen Cover ein Gemälde, das die Halfpenny Bridge in Dublin zeigte, von einem Jonathan Barry, der als »Contemporary Irish Artist« vorgestellt wurde … Hans Köberlin freute sich sehr darüber und las gleich dort und in seinen beiden Ausgaben (den Übersetzungen von Goyert und Wollschläger) die berühmten ersten Sätze, man schrieb Donnerstag, den 16 Juni 1904 …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013).

Montag, 15. Juni 2015

Beim Aufräumen gefunden …

Verfällt die Wirkung chinesischer Glückskeksprophezeiungen?

Über das romantische Empfinden

Das romantische Empfinden setzt die Dinge jenseits der Dinge fort. Wie der Schatten den Körper. Wie die an den Gegenständen haftende Erinnerung an sie. Die Fortsetzung des Dinges. Lebendig, gegenwärtig, greifbar. Das Ding und zugleich die Erinnerung an das Ding ›in der Gegenwart‹. Sonst haben die Dinge keinen Schatten, keine Erinnerung.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Kometen-Wörter, S. 208).

*

Er verließ also das Haus durch das untere der beiden Tore, schloß es wieder hinter sich ab, hielt sich links (die untere, wie gesagt, adreßgebende Straße war eine Sackgasse, das hatten sie gestern am Abend festgestellt, als sie auf die alte Nachbarin gewartet), auf der Straße Schwellen aus Kunststoff, dead policemen, wie man sie in der neuen Welt nannte, kam bis zu einer Einfallsstraße und ging dort rechts auf einem schotterigen Streifen – aber dennoch auf einer elementareren Erde, wie Borges dieses Empfinden des Gehens in einem Ausnahmezustand einmal komperativ ausgedrückt hatte – neben der Fahrbahn bergab. Mit überhöhter Geschwindigkeit – ein Schild gemahnte 40 – rasten Autos die Einfallstraße hinauf (sie nahmen Anlauf für die Steigung) und hinab (man befand sich Abfahrtsrausch), nach ein paar Metern stand auf dem Schotter neben der Straße das Ortseingangsschild, auf dem, wie auf vielen Schildern in der Region, mit Übermalungen und Überschreibungen der Übermalungen et cetera ad infinitum der bereits erwähnte absurde Kampf um das e ausgetragen wurde.
Hans Köberlin blickte – Achtung: erster Eindruck! – auf eine nach dem hiesigen König – der, das sei hier nur nebenbei bereits verraten, im Verlauf von Hans Köberlins Exil seinen Thron räumen sollte – benannte vierspurige Straße mit einem von der Sonne gedörrten begrünten aber durch Staub gebräunten Mittelstreifen, zu der sich als Fortsetzung die zweispurige Einfallstraße, die er hinabgegangen, hinter einem Kreisverkehr erweiterte, an deren Ende sich ein phallusartiges Hochhaus, ein Teil des bereits erwähnten ›Ifach Parc‹, wie er später herausfinden sollte, erhob. Hans Köberlin dachte, das Gebäude habe die Gestalt eines auf den Kopf gestellten Ypsilons (Sie können der Phallusassoziation folgen?), doch was er von weitem gesehen für die Öffnung zwischen den Schenkeln des kopfstehenden Buchstabens gehalten (Schenkel … jetzt kamen feminine Assoziationen ins Spiel, aber nicht wegen des Anblicks des Gebäudes, sondern wegen der Begriffe seiner Beschreibung), stellte sich später, als er das Gebäude zum ersten Mal von nahem passierte, als verglaster dreieckiger Lobbyvorbau heraus.
(…)
Hans Köberlin empfand angenehm die hier herrschende und anscheinend zu Alliterationen verleitende und eine allgemeine Wollust verbreitende Hitze. Hans Köberlin besah sein Exil im äußersten Maße unkritisch, denn dadurch, daß es ihm Exil war und dadurch, daß es das Meer gab und dadurch, daß die Sonne schien, war der Ort ihm, Hans Köberlin, über jede Kritik – auch die der Frau …
»¡Vive Dios, que me espanta esta grandeza!«
– erhaben. Es galt ihm hier, was die Differenz zwischen Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung und die als ›Wirklichkeit‹ an ihn herangetragene Fremdwahrnehmung betraf, Hegels berüchtigtes Diktum: »Umso schlimmer für die Wirklichkeit.« Der Schluß von Borges’ Essay La muralla y los libros fiel ihm ein: die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte, so Borges in einer seiner genialen Aufzählungen, wollten einem etwas sagen oder hätten einem etwas gesagt, was man nicht hätte verlieren dürfen (eine Option à la Baudelaire; H. K.), oder schickten sich an, einem etwas zu sagen, und dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht käme (dito; H. K.), sei vielleicht der ästhetische Vorgang.
Linkerhand der vierspurigen Straße reihten sich die Hochhäuser, die er von der Dachterrasse aus gesehen hatte, und rechts lag eine große Brachfläche (»el terreno baldío que se deshace en yuyos y alambres« sollte Hans Köberlin später in Borges’ Luna de enfrente lesen). Die beiden Supermärkte – ›Consum‹ (ein Name, der – anders betont als hier üblich ausgesprochen – bei der Frau Assoziationen an ihre Kindheit auslöste …) und ›Mercadona‹ – lagen links und rechts des Kreisverkehrs.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).

Sonntag, 14. Juni 2015

Der Antagonist des ersten Romans betitelt den vierten Roman

Auf der anderen Seite der Wand stand, ebenfalls auf einem Rest der Decke, der allerdings, wegen des unmittelbar daran stoßenden Treppenhauses, etwas breiter war, der Pfarrer, zu dessen Füßen Wolfram kauerte, den Stiefel des Gottesmannes unbarmherzig im Nacken, ein Bild wie von Sankt Georg dem Drachentöter, dachte Clemens da. Wolfram versuchte einige Befreiungsbewegungen, aber das nützte ihm nichts, und sich in seine Lage fügend begann also der Schiffskoch nun, laut und immer wieder ohne Unterbrechung schreiend zu verkünden, Hans Köberlin sei nicht tot, Hans Köberlin lebe, was in Verbindung mit seinem rußgeschwärzten Gesicht einen schauerlichen Eindruck machte und was sicher mit dazu beitrug, daß er später in der Klapsmühle landete.

(HannaH & SesyluS, aus der E-Book-Fassung, die demnächst erscheinen wird).

Freitag, 12. Juni 2015

re-entries

In seinem Essay Magias parciales del Quijote hatte Borges die These aufgestellt, Cervantes habe sich darin gefallen, die Welt des Lesers und die Welt des Buches zu vermischen, und er brachte als Beispiel, wie Cervantes den Barbier, eine seiner Figuren, eines seiner, Cervantes’, Werke – die Galatea – der Kritik unterzogen habe, und daß die Protagonisten zu Beginn des zweiten Teils den ersten Teil der Beschreibung ihrer Abenteuer gelesen hatten. Anschließend brachte er weitere Beispiele, in denen das Werk im Werk nochmals auftauchte …
  • Hamlet als Theaterstück in Hamlet,
  • das Ramayana und sein Autor Valmiki am Ende der Ramayana,
  • das Märchen der 602. Nacht in Tausendundeiner Nacht,
  • Josiah Royces The World and the Individual, wo die vollständige Karte eines Landes im Maßstab 1:1 ihre Karte enthalte, die wiederum ihre Karte enthalte, die wiederum ihre Karte … (subitil aufgegriffen von Michel Houellebecq in La Carte et le territoire, Paris 2010),
  • der Teppich, den Helena wie in der Ilias beschrieben in Troja gewebt hatte und der die in der Ilias geschilderten Kriegsszenen darstellte, und
  • Aeneas, der in der Aeneis in Karthago Reliefs mit Szenen aus dem trojanischen Krieg sah, unter anderem solchen mit sich selber,
… wir würden noch ergänzen …
  • nochmals die Ilias, die nämlich Odysseus in der Odyssee von dem blinden Rhapsoden der Phäaken vorgetragen hörte,
  • la recherche du temps perdu, die sich Marcel, wie eben bereits erwähnt, am Ende von À la recherche du temps perdu anschickte, zu beschreiben,
  • der in der Ilias beschriebene Schild des Achilles, der die gesamte Welt darstellte und also eine Art von Proto-Aleph war*, und schließlich
  • wir, die wir von dem Autor Hans Köberlin berichten, der die Fragmente unseres Berichts über die seltsamen Abenteuer seines, Hans Köberlins kommentierenden Herausgebers, kommentiert und herausgibt.
»It’s a Mad Mad Mad Mad World!«
»… lisant au livre de lui-même …«**
… wie Borges selber, am Ende von La busca de Averroes, gefühlt hatte, nämlich daß seine Erzählung ein Symbol des Menschen war, der er gewesen war, während er sie geschrieben hatte, und daß er, um diese Erzählung zu schreiben, dieser Mensch habe sein müssen, und um dieser Mensch zu sein, diese Erzählung habe verfassen müssen, und so ad infinitum.


* Vgl. dazu auch vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 491: »… angefangen mit der Abbildung der Welt auf dem von Hephaistos verfertigten Schild des Achilleus bei Homer – wo die Welterschließung in toto noch deskriptiv geschehen konnte, weil die Welt noch überschaubar war; Realismus fände immer an einem gewissen Komplexitätsgrad seine Grenze, wenn er nicht die Komplexität selber als Gegenstand nähme …«
** Stéphane Mallarmé, Hamlet et Fortinbras.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 10. Juni 2015

John Cage, Indeterminacy

[57 / 267]
Hans Köberlin hörte während seines Dauerlaufs tatsächlich John Cages Indeterminacy, er schaffte die ersten beiden Teile und zehn Minuten des dritten Teils, das hieß, daß er in den vergangenen eineinhalb Wochen der großen Dauerlaufstrecke schneller geworden war. In einer dieser Geschichten erzählte Cage (während Hans Köberlin südlich hinter der Hauptstraße Treppenstufen hinunter zum Strand lief) von einem Freund aus der Stadt des Lichts, der seinen alten Ford (wohl so ein Kleinbus, ›Transit‹ oder wie die Dinger geheißen) mit Möbeln und Topfpflanzen zu einem mobilen Wohnzimmer gemacht hatte. Eines Tages dann sei er damit vor einer Hamburgerbude vorgefahren, habe einen roten Teppich ausgerollt, sei darüber in die Bude gegangen, habe einen Hamburger gegessen, habe anschließend den Teppich wieder eingerollt und sei weitergefahren. – Mit dem Hören von John Cages Geschichten, während des Dauerlaufens im Hinterland, vorbei an den beiden Discountern aus Hans Köberlins Herkunftsland, die zu boykottieren er sich entschlossen hatte, und vorbei an dem dazwischen liegenden nach Odysseus benannten Trailerpark und den beiden vereinzelten Hochhäusern im Hinterland, und über die Brücke über das ausgetrocknete Flußbett (wir vergessen immer, wie diese hier häufig vorkommenden ausgetrockneten Flußbetten genannt wurden) am Ende des Hinterlande und am Anfang des Ortes, und vorbei an den beiden Tankstellen und über die Straße, die wegen der sie flankierenden Allee als einzige Avenida des Ortes in Hans Köberlins Imagination die Bezeichnung Avenida verdient hatte und auf deren Zebrastreifen er wegen des hiesigen Fahrstils stets befürchtete, daß ihn hier einmal sein Schicksal ereilen könne …: mit John Cage im Ohr von einem dieser protzigen SUVs, wie man die dämlich nannte, überrollt … – aber das mit der Avenida stimmte nicht ganz: es gab noch die ein oder andere Stelle, die sich ihre Berechtigung aus anderen (Re-)Imaginationen Hans Köberlins holen konnte – und weiter durch den Ort an die Promenade und dann am Meer entlang – mit dem Hören von John Cages Geschichten also sollte es seine besondere Bewandtnis haben, aber dazu später mehr. (…)

[58 / 266]
Auch an diesem Morgen, nachdem er nach Aktualisierung des Filmkalenders ein Still aus Max Ophüls’ Adaption der Stevan-Zweig-Novelle Brief einer Unbekannten goutiert hatte, hörte Hans Köberlin während seines Dauerlaufs Cages Indeterminacy, er begann aber diesmal mit dem zweiten Teil, um mit dem Hören weiter als gestern zu kommen. Das hatte den Nebeneffekt – der Cage bestimmt gefallen hätte –, daß es zu einer Art von Phasenverschiebung betreffs des Hörens bestimmter Geschichten und den Orten des Hörens dieser Geschichten kam, weil Hans Köberlin sich beim jeweiligen Hören an die Orte des vormaligen Hörens erinnerte, die spezifische Rezeptionssituation war ihm ja – was einen bei Hans Köberlin sicher nicht wunderte – Teil der Rezeption. So hörte er zum Beispiel heute die Geschichte von Cages Freund mit dem alten Ford, die er gestern an den Stufen zum Strand südlich hinter der Hauptstraße gehört hatte, bereits auf einer der Straßen im Hinterland. Er hörte die Geschichte also aktuell und simultan, quasi als Echo aus der Vergangenheit … Und er sollte sich fürder, wenn er die Rezeptionsorte auch ohne Cage zu hören passierte, an die Cage-Rezeptionssituation während seines Dauerlaufs erinnern.
In einer anderen Geschichte, die Hans Köberlin diesmal überhört hatte oder die sich im ersten, diesmal nicht gehörten Teil befand (der Erinnerung der Rezeptionssituation nach war der erste Fall, also das Überhören, wahrscheinlicher), ging es um ein Mädchen, das in einer schulischen Situation nie ihre Aufgaben erledigte. Als sie gefragt wurde, warum sie das nicht täte, antwortete sie, sie habe keine Zeit dafür gehabt. Was sie denn glaube, so der Lehrer weiter, wie viele Stunden ein Tag habe? – Na, vierundzwanzig. – Nein, so der Lehrer weiter, der Tag habe so viele Stunden, wie man ihm geben würde. – Da war etwas dran, so Hans Köberlin, aber wie bei allen solchen Geschichten: nur etwas, der Hauch einer Metapher, denn der Tag hatte nun einmal bloß vierundzwanzig Stunden, da biß die Maus keinen Faden ab.
Noch eine andere Geschichte gefiel Hans Köberlin außerordentlich: »Artists talk a lot about freedom«, so Cage, und man gebrauche häufig den Vergleich »free as a bird«, nun, Morton Feldman habe neulich im Park Vögel beobachtet (»our feathered friends«, nannte sie Cage) und sei zu der Einsicht gekommen: »They’re not free: they’re fighting over bits of food«, eine Erfahrung, die Hans Köberlin auch mit den Spatzen und den Tauben und den Möwen auf der Terrasse der ›Tango Bar‹ machte, und er, Hans Köberlin, war auch nicht frei, denn er mußte seine Nüßchen zum Wein gegen seine gefiederten Freunde, die er eher als seine gefiederten Feinde betrachtete, verteidigen (und natürlich sympathisierte er mit dem Taubenvergifter im Park).
Und wenn Cage von einer Einladung zu einem Essen bei einer indischen Freundin erzählte, zu dem außer ihm noch Dr. Suzuki, Gertrude Stein und James Joyce gekommen,* da dachte Hans Köberlin: »Ach …!«


* Da aber hatte Hans Köberlin nicht aufmerksam zugehört …
»An Indian lady invited me to dinner and said Dr. Suzuki would be there. He was. Before dinner I mentioned Gertrude Stein. Suzuki had never heard of her. I described aspects of her work, which he said sounded very interesting. Stimulated, I mentioned James Joyce, whose name was also new to him. At dinner he was unable to eat the curries that were offered, so a few uncooked vegetables and fruits were brought, which he enjoyed. After dinner the talk turned to metaphysical problems, and there were many questions, for the hostess was a follower of a certain Indian yogi and her guests were more or less equally divided between allegiance to Indian thought and to Japanese thought. About eleven o’clock we were out on the street walking along, and an American lady said, ›How is it, Dr. Suzuki? We spend the evening asking you questions and nothing is decided.‹ Dr. Suzuki smiled and said, ›That’s why I love philosophy; no one wins.‹« (Composition as Process; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 41).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VIII [Phase III – oder: Konsolidierung], 19. November bis 19. Dezember 2013). 

Verleser

Anschließend unterlief Hans Köberlin ein Verleser, der ihm sehr gut gefiel: »Cioran hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß die charakteristische Regung seines Denkens und Schreibens die Umkehrung eines Fluchs in eine Aufzeichnung gewesen sei«, las er, aber Sloterdijk hatte natürlich geschrieben: »Cioran hat oft darauf aufmerksam gemacht, daß die charakteristische Regung seines Denkens und Schreibens die Umkehrung eines Fluchs in eine Auszeichnung gewesen sei.«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel I [Prolog], Von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013).

*

Statt »Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit« (ein Buchtitel) las ich ›Das Denkmal für die Grenze der Sprachfähigkeit‹ und dachte, das sei der Titel eines Kunstwerks.

*

Hans Blumenberg: »Diese Verlesung (statt ›si fractus illabatur / impavidum ferient ruinae‹ ›sic fratus illabitur …‹) ist die Wunschhandlung eines Theologen, den Konjunktiv des antiken Autors zum eschatologischen Indikativ seiner spezifischen Gewißheit zu machen.«

*

Verleser bei einem Gedicht von Heinrich Heine: »… klingt das Lied auch nicht ergötzlich, / hat’s mich doch von Arbeit befreit.« Bei Heine steht jedoch: »hat’s mich doch von Angst befreit.«

*

»Ich korrigiere die Fahnen der Lukian-Auswahl, die ich für Bompiani gemacht habe. In meiner Anmerkung zu Eine wahre Geschichte hatte ich geschrieben: ›Der Homer der Legende ist blind, weil der Tradition zufolge die Muse dem Dichter den Gesang (il canto) gibt und ihm das Augenlicht nimmt.‹ Aber der Setzer hat statt canto (Gesang) conto (Rechnung) gesetzt.«
(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Kalauer, S. 187).

Und dies ist der 132. Eintrag


(John Cage, Silence. Lecture on Nothing; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 112).

*

This is the first verse
This is the first verse
This is the first verse
This is the first verse …
And this is the chorus
Or perhaps it’s a bridge
Or just another part
of the song that I'm singing

This is the second verse
Or it may the last verse
This is the second verse
Or it may the last one
And this is the chorus
Or perhaps it’s a bridge
Or just another key change …

(Matching Mole, Signed Curtain; Words & Music by Robert Wyatt).

Dienstag, 9. Juni 2015

Das kann einem so passieren


(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Montag, 8. Juni 2015

Form und Welt

Was ist die Einheit einer Zweiheit?

(Niklas Luhmann, Die Welt der Kunst; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 301).

Samstag, 6. Juni 2015

Jules et Edmond en Rome

Ah! le peuple heureux que ce peuple gai de la gaieté de son ciel, avec ses bonheurs à bon marché, achetant la viande de première qualité, douze baïoques, et le vin rien, pour ainsi dire, et sans la conscription, et sans presque d’impôts, et sans humiliation dans la pauvreté, et sans amertume dans la misère, soulagé qu’il est par tant d’institutions de bienfaisance, et aussi par la main à la poche des un peu moins pauvres que les plus pauvres.
Quand je compare ce peuple aux peuples de progrès et de liberté, marqués au signe de ce sinistre affairement moderne, en lutte avec le budget de chaque jour, massacrés d’impôts, y compris celui du sang, je trouve vraiment que les mots se payent bien cher.

(Aus dem Journal der Gebrüder de Goncourt, Eintrag vom 15. April 1867).

Freitag, 5. Juni 2015

Nöte

Wie gerne hätten wir in Bezug auf Hans Köberlin jene Verse aus Borges’ Sonett über den Chronisten des Ritters von der traurigen Gestalt zitiert …
Contemplaría, hundido el sol, el ancho
Campo en que dura un resplandor de cobre;
Se creía acabado, solo y pobre,

Sin saber de qué música era dueño …
Allein: wir waren dazu nicht Nachwelt genug.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 3. Juni 2015

Heute vor …

… einem Jahr (das soll nicht zu häufig passieren):

Die Fußnote mit der derzeitigen Nummer 1863

Dies erinnerte uns an den Anfang von John Cages Mesostichon Overpopulation and Art, vorgetragen an der Stanford University in Palo Alto am 28 Januar 1992, einige Monate vor seinem Tod …

ab
li
all at onc
equaled the numbe
the 
g
became equel to the 
we are now in the f
it is something e

Out 1948 or 50 the number of people
Ving
E
R who had ever lived at any time all added together
Present as far as numbers
O
Past
Uture
Lse

Neueren Theorien zufolge soll das nicht stimmen, die Toten sollen immer in der Überzahl sein, was uns aber egal ist.

Dienstag, 2. Juni 2015

Empirie, 1. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts: S. 774 von ca. 1.800 Seiten
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 681 von ca. 1.800 Seiten
    • Kapitel: XII (= Phase V – oder: Un gringo en Calpe) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Montag, der 10. Februar 2014, der 132. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Fußnoten Stand des Manuskripts: 2159
  • Fußnoten am Stand der Überarbeitung: 1819
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags*
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen



* (= die momentane Fußnote 280 auf S. 59) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!

¡Nada!

Qué importa el tiempo sucesivio si en él
hubo una plenitud, un éxtasis, una tarda.

(Jorge Luis Borges, Pagina para recordar al colonel Suárez, vencedor en Junín; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 10: Die zyklische Nacht, Frankfurt am Main 1993, S. 40; diese Verse befinden sich auch unter den Motti von Kapitel XVI [In der Hauptstadt der autonomen Region] des work in progress ).

Eine Sehnsucht geweckt nach etwas, was fehlt, ohne daß man es bisher vermißt hätte

Es dürfte nicht ausreichen, mit diesem Begriff [Fiktionalität] nur die besondere Qualität einer besonderen Art von Texten zu bezeichnen, etwa Texten, denen erlaubt ist, sich nicht nach der bekannten Realität und ihren Wesensformen zu richten, sondern virtuelle Realitäten anderer Art vorzustellen. (…) Auch die sich selbst überlassene, nur auf das ästhetisch Mögliche verwiesene Fiktionalisierung der Literatur gerät mit dem Gott der Leibnizschen Weltordnung in Konflikt. Denn offenbar ist jetzt Fiktionalität, sofern sie ästhetisch gelingt, nicht darauf angewiesen, sich kompossibel in unsere Welt einzufügen. Kann man, so ist zu fragen, diesen Punkt offenlassen? Ist also Fiktionalität nur gelungene Darstellung einer möglichen Ordnung oder muß mehr verlangt werden?
Sieht man genauer zu und zieht man die Geschichte der Ausdifferenzierung von eigenständiger Fiktionalität mit in Betracht, dann handelt es sich gar nicht um die bloße Ausarbeitung irgendeiner virtuellen Realität, sondern, thematisch oder unthematisch, um das Verhältnis von virtueller Realität und realer Realität. Es wird eine fiktionale Ordnung gefunden, damit man von da aus die normale, allen bekannte Wirklichkeit betrachten kann, etwa in ihrer Härte und Unausweichlichkeit oder in ihrer Normalität und Langweiligkeit. Oder es wird eine Sehnsucht geweckt nach etwas, was fehlt, ohne daß man es bisher vermißt hätte.

(Niklas Luhmann, Literatur als fiktionale Realität; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 280f.).

Montag, 1. Juni 2015

So ist es.

Eigentlich begehrt und braucht jeder Mensch seinen besondern Roman. Wie für Griechenland Homers Epos alles war und gab: so ist der Roman das prosaische Epos ihres Lebens, ihrer Vergangenheit und Zukunft.

(Jean Paul, Vorschule der Ästhetik; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, München 1959ff., 1. Abt., Bd. 5, S. 482).

Am Mittwoch, dem 29. August 1979 …


Clemens zuckte bloß mit den Schultern und meinte, man solle sehen, daß man weiter käme und, wie bereits Shakespeare gesagt habe, die Toten ihre Toten begraben lassen. Aber Clemens, meinte P. darauf lachend, das war doch nicht Shakespeare, das war doch Jesus!

(HannaH & SesyluS, aus der E-Book-Fassung, die demnächst erscheinen wird).