Samstag, 30. Mai 2015

Zu spät …

Pierre me raconte qu'il est arrivé à quatre heures. Son père [der Zeichner und Graphiker Paul Gavarni, einer der besten Freunde der Gebrüder Goncourt], à son arrivée, resta d'abord immobile. Puis, sous la pression de sa main, il lui dit d'une voix rude:
»Ah! c'est toi, mon garçon.«
Et comme s'il faisait sa dernière et suprême légende:
»Eh bien! voilà mon caractère!«
Pierre lui parla alors de changer de vie, quand il serait sur ses pattes et qu'il faudrait aller à ces pays de soleil dont il revenait:
»Nous parlerons de cela, je ne te dis pas le contraire.«
Ce fut son dernier mot.

(Aus dem Journal der Gebrüder de Goncourt, Eintrag vom 6. Dezember 1866).

Mittwoch, 27. Mai 2015

Eine Topographie der Träume

Der geniale Jorge Luis Borges hatte im Vorwort zu seinem Libro de sueños die These aufgestellt (und sie als gefährlich attraktiv bezeichnet), daß Träume die älteste und komplexeste literarische Gattung seien. Clemens dachte darüber nach und fragte sich, ob diese These nur für Träume gelte, die man als Träume erlebe und in der wachen Erinnerung als Träume rezipiere, oder auch für die Träume, die man nicht für Träume sondern für himmlische oder sonstige Einflüsterungen halte. Man mußte das wohl unterscheiden, wie Borges die Träume der Nacht von den Träumen des Tages, die er als eine absichtliche Übung unseres Geistes betrachtete, unterschieden haben wollte, wobei dann Arno Schmidt bekanntermaßen die Träume des Tages von der absichtlichen Übung des Geistes unterschieden und letzteres als »längeres Gedankenspiel« beschrieben hatte. Eine andere Unterscheidung, die Borges dort anführte, war die zwischen trügerischen und der prophetischen, wobei er – und da ging Clemens, nicht zuletzt wegen des mit Lindsay Erlebten – mit Borges d’accord, wenn der die prophetischen als weniger wertvoll bezeichnete.
Borges machte ihn in seinem Vorwort auch auf einen Umstand aufmerksam, der Clemens sofort einleuchtete: die Eiländer jenseits des Kanals bezeichneten die ›Albträume‹ als ›Nachtstuten‹.
Und noch ein Fundstück aus dem Vorwort (wir müssen aufpassen, daß wir nicht das ganze Buch abschreiben) gab Clemens zu denken: Coleridge habe geschrieben, so Borges, daß im Wachen die Bilder Empfindungen inspirierten, während im Traum die Empfindungen die Bilder inspirierten. Sein Beispiel war der Tiger, der im Wachen Angst bereite, wobei aber die Angst im Traum den Tiger inspiriere. Es müsse aber nicht per se etwas Angstmachendes oder Grauenerregendes sein, es gäbe keine einzige Form im Weltall, die sich nicht vom Grauen verseuchen ließe. Auch hier sprach Borges Clemens aus dem Herzen, und Clemens ergänzte für sich, die Nachtstuten bedenkend: selbst der liebste Mensch, der ja bei Clemens stets weiblichen Geschlechts sein sollte.

(aus: Telos, Berlin 2013, S. 165f.).

Dienstag, 26. Mai 2015

Wald

Cuentan que Ulises, harto de prodigios,
Lloró de amor al divisar su Itaca
Verde y humilde. El arte es esa Itaca
De verde eternidad, no de prodigios.

(Jorge Luis Borges, Arte poética; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 9: Borges und ich, Frankfurt am Main 1993, S. 125).

Samstag, 23. Mai 2015

Fisch ist gut fürs Hirn!

Tout être, homme ou femme, qui aime le poisson, a des goûts délicats.
(Aus dem Journal der Gebrüder de Goncourt, Eintrag vom 24. September 1866).

Clemens blickte auf das Gebäude: die unteren Fenster waren sämtlich erleuchtet, Gardinen verwehrten jedoch den Einblick. Im ersten Stockwerk waren nur zwei Fenster hell, sonst war alles dunkel. Das gelblichgrünliche Licht, das Clemens von der Grünanlage aus gesehen hatte, kam von einem gelben Schild, darauf zu sehen das Wappen einer lokalen Brauerei mit dem Namen des Gebräus nach pilsener Art, darunter in grün der Name des Etablissements: Motel-Pension Rieselblick. Was alles Böses gegen das Bier bei Philosophen gesagt werde, so wie immer treffend Jean Paul, gelte nicht bei ihm.
Nun, dachte Clemens, zauderte einen Moment, dann schritt er schräg über den Parkplatz auf die Tür unter dem Schild zu. Neben der Tür war eine Reklame angebracht, die dazu aufforderte, mehr Fisch zu essen, denn Fisch sei gut fürs Hirn, angebracht von der Fischpacht und Fischräucherei Umschlag. Gut fürs Hirn und gut auch für … ergänzte Clemens bei sich. Die ersten Walfänger hielten den sogenannten Walrat, den sie im Kopf des Pottwales fanden, für dessen Sperma und nannten ihn dementsprechend Sperm Whale. Ja, das mimetische Vermögen … Analogien allen Orts …
Clemens drückte die Klinke herunter und trat ein.

(HannaH & SesyluS, aus der E-Book-Fassung, die demnächst erscheinen wird).

Freitag, 22. Mai 2015

Ein Nachmittag

Warum nicht?

Ist womöglich das Genie, das heißt der höchste Ausdruck, das nec plus ultra der intellektuellen Aktivität ledigliche eine Neurose? Warum nicht?

(Jacques-Joseph Moreau, La Psychologie Morbide Dans Ses Rapports Avec La Philosophie de L'Histoire, Ou de L'Influence Des Nevropathies Sur Le Dynamisme Intellectuel, Paris 1859).

Mittwoch, 20. Mai 2015

Noch zwei signifikante Monatskalenderblätter

[1 / 323]
Der auf drei Tage angelegte Transfer von der Hauptstadt in das zweite Exil des Hans Köberlin an der weißen Küste des Landes des Ritters von der traurigen Gestalt und in dem Land des genialen Luis Buñuel, an jener Küste (allerdings etwas südlicher als die wilde lag die weiße), an welcher auch der nicht minder geniale Roberto Bolaño sein Exil verbracht, startete –
»¡Ándale, ándale!«
– also am frühen Morgen des Mittwochs, des 2. Oktobers 2013 (da war Hans Köberlin genau 53½ Jahre alt), und er, der Transfer, startete vor dem Haus, in dem die Frau lebte, im Bezirk des Hauptmanns, nachdem man am Abend zuvor mit Hilfe des Verlegers und des Busenfreundes den Teil von Hans Köberlins verbliebener Habe, den er mitnehmen wollte (den Rest hatte er auf dem Gutshof des Verlegers südwestlich der Hauptstadt abstellen können), als da waren …
  • fünf mittelgroße Kisten mit den Ende Mai nach einer wegen der Beschränkung mühsamen Auswahl zusammengestellten Bänden der von Hans Köberlin so bezeichneten ›Basisbibliothek‹,
  • eine große lederne Reisetasche, einen großen Rucksack und zwei blaue Plastiksäcke mit Hans Köberlins – abgesehen von einer Winterjacke, einem Wollschal und drei Paar langen Unterhosen – sämtlicher verbliebener Kleidung,
  • eine kleine lederne Reisetasche und einen kleinen von der Frau ausgemusterten Rucksack mit diversen Dingen (vor allem mit Computerzubehör und den zum Schnorcheln benötigten Utensilien),
  • eine Umhängetasche mit dem kleinen Laptop mit der klemmenden I-Taste, Unterwäsche zum Wechseln während des Transfers und Waschzeug sowie unverpackt an geeigneten Stellen im Auto verstaut
  • der eigens für das Exil gekaufte große Laptop, ein Scanner und ein Drucker,
… man startete also, nachdem man dies alles aus seiner zweiten provisorischen Bleibe seit Beginn der Lysakatastrophe in das Auto der Frau verladen hatte.
»¡Ándale, ándale!«


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Am Donnerstag, dem 21. August 2014 … und vor dem ersten Einschlafen hier, wieder zurück: dahin kommen, überall gut leben zu können.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel II [Exodus], 2. bis 4. Oktober 2013, und Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Freitag, 15. Mai 2015

Donnerstag, 14. Mai 2015

Ein Beispiel von heroischer Melancholie

Nadie rebaje a lágrima o reproche
Esta declaración de la maestría
De Dios, que con magnífica ironía
Me dio a la vez los libros y la noche.

(Jorge Luis Borges, Poema de los dones; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 9: Borges und ich, Frankfurt am Main 1993, S. 48).

… candy colored clown they call the sandman …

In den Träumen (schreibt Coleridge) stellen die Bilder jene Eindrücke dar, die sie nach unserer Meinung nach hervorrufen; wir fühlen kein Grauen, weil uns eine Sphinx bedrückt, sondern wir träumen eine Sphinx, um das Gauen zu erklären, das wir empfinden.

(Jorge Luis Borges, Ragnarök; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 9: Borges und ich, Frankfurt am Main 1993, S. 43).

Im Traum waren die Städte und die Landschaften im oben erwähnten Sinne Borges’ stets Emotionen. Die Sehnsucht, per definitionem auf das Unerreichbare gerichtet (die im Erreichbaren erfüllte Sehnsucht hatte sich ihm stets als Fata Morgana erwiesen), fand in den Träumen ihr Erreichbares in den Traumstädten und Traumlandschaften, ohne daß es da unbedingt gemütlich zugegangen wäre. Aber es waren der Immanenz des Clemens Limbularius’ ideale Himmel und Höllen.
(…)
Einer der wenigen überlieferten Aufzeichnungen Clemens Limbularius’: »Sonntag, den 6.: Träumte vor dem Aufwachen einen Satz: ›Und dann waren sie still und die Dunkelheit konnte hereinkommen.‹ Als ich merkte, daß der Satz von mir war, freute ich mich.«

Hebbel notierte am 29. November 1858 als Grabschrift für eine ehemalige Gönnerin folgendes Distichon in sein Tagebuch:

Wie von den einzelnen Mühen und Lasten des Lebens im Schlummer,
Ruht sie vom Leben selbst endlich im Tode sich aus.

(aus: Telos, Berlin 2013, S. 168ff.).

Seinsweisen

»אֶהְיֶה אֲשֶר אֶהְיֶה« (Exodus 3.14).

»I am not what I am.« (Iago in Shakespeares The Tragedy of Othello, the Moor of Venice, Act I, Scene I).

»I yam what I yam, an’ tha’s all I yam.« (Popeye the Sailor).

Dienstag, 12. Mai 2015

Das Universalbild

Die Referentin begann also mit dem Referat von Hans Köberlins Beschreibung einer geplanten aber – wen wunderts? – nie realisierten Installation mit dem Titel Das Universalbild. Diese Installation, so ging aus dem Text hervor, war inspiriert von Borges’ Erzählungen La biblioteca de Babel, El libro de arena und El aleph, wobei La biblioteca de Babel, wie sicher alle wüßten, wiederum in der Tradition von Leibniz stehe und vielleicht sogar von der Erzählung Die Universalbibliothek des preußischen Gymnasiallehrers und Kantianers Kurd Laßwitz inspiriert sei, Hans Köberlin jedenfalls habe sich bei Laßwitz die Anregung für seinen Titel geholt. Weiter erfuhr man, daß Hans Köberlin bei seiner Installation von einem Monitor mit einer bestimmten, der Einfachheit halber nicht allzu hohen Auflösung, sagen wir einmal sechshundertvierzig mal vierhundertachtzig, ausgegangen war, das ergaben dreihundertsiebentausendzweihundert Pixel. Ging man außerdem von zweihundertsechsundfünfzig RGB-Farben aus, so kam man per Kombinatorik zu einer sehr, sehr großen, aber endlichen (Ausrufungszeichen) Zahl von Möglichkeiten der Farbanordnung auf den dreihundertsiebentausendzweihundert Pixeln, jener sehr großen aber endlichen Zahl, die nach Hans Köberlin nichts anderes angab als die Zahl aller möglichen Bilder überhaupt, aller vergangenen und aller künftigen Bilder (…), sowohl aller – nennen wir sie einmal so – natürlichen Bilder, die alle jemals lebenden Menschen sahen und sehen werden, wenn sie irgendwohin schauen, als auch aller künstlichen Bilder in allen Phasen ihrer Entstehung und ihres Verfalls, von der Mona Lisa bis zu dem Beweisphoto eines Auffahrunfalls in einer Vorstadt mit Bürogebäuden, alle Bilder, seien sie nun gerahmt oder die bewegten Einzelbilder der Kinematographie (die gefilmten Fresken, die in Fellinis Roma in der Untergrundbahnbaustelle durch ihre Rezeption verschwinden), Bilder aus allen Perspektiven (die Camera obscura, die Clemens auf dem vatikanischen Deckengemälde gesehen hatte), den möglichen wie den unmöglichen (die Vogelperspektive bei Hitchcock), sofern sie bloß abbildbar waren. Und gäbe es einen Beobachter, der älter als die Welt werden könne, dann, so die Referentin, würde er mit Erstaunen – vielleicht – feststellen, daß es länger als das Bestehen der Welt brauchte, um Hans Köberlins Installation bis an das Ende eines vollen Durchlaufs zu betrachten, weil die Dauer der Welt ja bloß den Ablauf der realen Bilder ausmachte.
Ein Tuscheln ging durch den Raum, die Leute fragten sich, ob das logisch richtig war oder ob man ihnen einen Bären aufband.
Hans Köberlin, so die Kunsthistorikerin weiter, habe den Monitor irgendwo aufstellen und dann mit einem weißen Bildschirm als erstem Bild beginnen wollen, dann wäre die Kombinatorik in Gang gekommen, allerdings nicht systematisch mit einem Pixel links oben in der Ecke auf dem zweiten Bild et cetera, sondern zufallsgeneriert, damit es nicht die nächsten hunderttausend Jahre allzu langweilig werden würde, zufallsgeneriert aber ohne Wiederholung einer bereits aufgetauchten Kombination von Pixeln, denn man wollte ja irgendwann zu einem Ende kommen, das war ja die Pointe dieses Projekts. Und was man während ihrer Einführung im Hintergrund gesehen habe (sie blickte kurz hinter sich) und jetzt noch sehe sei der Versuch (man hörte die Ironie in ihrer Stimme), einen Ausschnitt aus diesem Projekt zu rekonstruieren.
Soviel dazu.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 488ff.).

Montag, 11. Mai 2015

5. Februar 1866

Der Norden schenkt sich den Rausch ein, der Süden atmet ihn: es gibt Länder, wo man den Himmel trinkt.

(Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 4, S. 325).

Sonntag, 10. Mai 2015

home is where my heart is …

Später ging man schwimmen und entdeckte die ›Tango Bar‹, die sich mit der Zeit – wir werden darüber berichten – zur Institution im Leben des Hans Köberlin hier entwickeln sollte, noch institutioneller als das »chez Magny« der Gebrüder Goncourt,* und der emblematische Blick würde der Blick von der Bar auf das Meer werden, mit einer Bank und einer Laterne auf der Promenade als strukturierende Akzente. Und wenn man nach rechts schaute, dann sah man den Peñón de Ifach hinter Palmen … Wild Palms … und Hans Köberlin mußte an Faulkner denken und mit einem leichten Schmerz im Gemüth an die Umstände seiner Faulknerlektüre. Man bestellte una cerveza con limón (die Frau) und una cerveza (Hans Köberlin), küßte sich, scherzte, vergaß die Zeit und den Tag (den letzten) und sah dem Treiben am Strand und auf der Promenade zu.


* Samedi 22 novembre [1862]. – Gavarni a organisé avec Sainte-Beuve un dîner qui doit avoir lieu deux fois par mois. C’est aujourd’hui l’inauguration de cette réunion et le premier dîner chez Magny, où Sainte-Beuve a ses habitudes. Nous ne sommes aujourd’hui que Gavarni, Sainte-Beuve, Veyne, de Chennevières et nous, mais le dîner doit s’élargir et compter d’autres convives. (Vgl. – mit einem etwas anderen Wortlaut – Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 3, S. 417).


(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).

Samstag, 9. Mai 2015

Der Beginn eines großen Abenteuers

Die Sonne ging auf seiner Reise viermal unter, und am Ende des vierten Tags, welcher der vierte Oktober neunzehnhundertdreiundvierzig war, erreichte der Matrose ‘Ndrja Cambrìa, einfacher Oberbootsmann der ehemaligen Königlichen Marine, den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis.

(Stefano D’Arrigo, Horcynus Orca, aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Moshe Kahn, Frankfurt am Main 2015, S. 11).

Donnerstag, 7. Mai 2015

Kein Grund zur Eile, oder?

Heute nach dem Frühstück las ich bei Kierkegaard dort weiter, wo ich vor ein paar Tagen aufgehört hatte, und las:

»Vielleicht wäre die Sache mir besser geraten, wenn ich noch etwas gewartet hätte – jedenfalls habe ich nicht darum geeilt, weil ich besorgte, ein besserer Kenner könnte mir zuvorkommen; nein, sondern weil ich fürchtete, daß, wenn ich schwiege, die Steine anheben würden.« (Søren Kierkegaard, Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische; in: Entweder-Oder. Ein Lebensfragment, Leipzig 1885, S. 74).

Eben dann, kurz nach Mittag, las ich bei Pessoa dort weiter, wo ich gestern aufgehört hatte, und las:

»Nach uns allen kommt die Sintflut, aber erst nach uns allen. Wohl denen, die erkennen, daß alles Fiktion ist, und ihren Roman schreiben, bevor ihn ein anderer für sie schreibt.« (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S.103).

Ein zweifacher Appell …: in dem Bewußtsein, daß weder die Steine anheben werden noch ein anderer meinen Roman schreiben wird, lasse ich mir die Zeit, die ich brauche, und zur Not bleibt noch die Gattung ›Fragment‹

Mittwoch, 6. Mai 2015

Noch ein Alibi

Wie ich gerade zufällig zwischen den Seiten 260 und 261 von Niklas Luhmanns Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, genauer: in dem Text 9. Die Evolution des Kunstsystems, erfuhr, habe ich für den Freitag, den 7. Februar 2014, 14:46 Uhr, ein Alibi (das zweite an einem Tag gefundene, siehe: Ein Alibi). Damals nämlich löste ich in einer Tram einen Einzelfahrausweis, Regeltarif für den Tarifbereich Berlin AB.

Symmetrie

Über seine Erinnerung grinsend sah Clemens ein symmetrisches Doppelhaus. Jede Symmetrie ist eine Lüge, dachte Clemens, weil es ja zwei nur quasiidentische weil spiegelverkehrte Teile sind, Borges hatte irgendwo von unnützen Symmetrien und manischen Wiederholungen gesprochen. Das Drama der zwei, die zusammen sind, ist: sie gehen entweder in einem auf oder zerfasern sich im Unendlichen. Außerdem, wie Blumenberg richtig bemerkt hatte, gab es da eine grundlegende Asymmetrie in allem Sein überhaupt, nämlich der Rest, der in dem voranfänglich symmetrischen Verhältnis von Materie und Antimaterie am Anfang von allem dann von der Materie übrig geblieben war und der eben ausmachte, daß da etwas war und nicht nichts, siehe auch Althusser, Materialismus der Begegnung, wobei es bei dem eine Aberration und keine Asymmetrie war. Jedenfalls: das war eine gute Grundlage für einen gesunden Nihilismus … hm, aber wohl auch nicht, denn man mußte ja dem Gerede von Materie und Antimaterie und Asymmetrie und Aberration glauben. Ich glaube an den Nihilismus – was für ein Satz! Über die Frage, warum etwas war und nicht nichts war, darüber machte Clemens sich keine wirklichen Gedanken. Der Überschuß an Materie, aus der nach diesen Theorien alles kam, war natürlich kein Anfang, denn irgendwoher mußte diese Asymmetrie oder Aberration ja gekommen sein und irgendwoher mußte die Materie und die Antimaterie oder die Homogenität, von der abgewichen wurde, ja gekommen sein, daß sie in einem asymmetrischen oder aberrierten Verhältnis zueinander stehen konnten, Hennen und Eier das alles … Man konnte sich da nur noch unter Nichtberücksichtigung der Details entscheiden zwischen der Annahme eines selbstreflexiven Anfangs oder der Annahme eines Zufalls als Auslöser der Asymmetrie oder der Aberration innerhalb der Ewigkeit. Clemens votierte bei dieser Frage ganz klar für den Zufall. Analoges nahm er für das Ende von allem an, oder, je nach Gusto, für den großen Neuanfang, aber das, das Ende, kümmerte ihn noch weniger als der Anfang, weil er ja da nicht mehr sein würde, das würde nicht mehr sein, was den Clemens ausmachte, nur noch eine Handvoll verstreuter indifferenter Mineralien und Salze (per un pugno di salini … und Clemens pfiff vor sich hin, Camel Filters …). In gewisser Weise, so dachte er sich, trug er die Zeit von irgendeinem zufälligen Anfang, den er annahm, bis zu seiner Geburt als Erbe mit sich herum, ein restaristotelisches Denken war das wohl, aber relevant wurde es für ihn mit der Welt erst von dem Moment an, in dem er da war, ob pränatal oder erst nach der Geburt, auch die Frage war ihm zweitrangig.

(HannaH & SesyluS, aus der E-Book-Fassung, die demnächst erscheinen wird; siehe auch Asymmetrie).

Ein Alibi

Wie ich gerade zufällig zwischen den Seiten 164 und 165 von Jorge Luis Borges’ Einhorn, Sphinx und Salamander, auf denen sich der Artikel Die Achtfache Schlange befindet, erfuhr, habe ich für den 23. Dezember 1994, 9:59 Uhr, ein Alibi. Damals kaufte ich nämlich für 16,90 DM in der Buchhandlung Schmitt & Hahn im Hauptbahnhof von Frankfurt am Main den 8. Band von Borges’ Werken in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1992.

Dienstag, 5. Mai 2015

Die Nichtexistenz der Tiefe

Ich entdeckte die Nichtexistenz der Tiefe. Was uns an die Existenz der Tiefe glauben läßt, ist lediglich der Abstand, der sich zwischen uns und ›eine‹ Oberfläche schiebt. Zwischen uns und der ›Tiefe‹ ist nur eine Abfolge von ›Oberflächen‹. Auch die ›Tiefe‹ ist eine ›Oberfläche‹.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Der Deutsche und Europa, S. 88; in diesem Artikel gibt es auch wunderbare Passagen gegen jeglichen Nationalismus und Patriotismus).

Sonntag, 3. Mai 2015

Übergänge

Rien de déchirant comme ce suprême sourire d’un homme qui commence à être un mort.

(Aus dem Journal der Gebrüder de Goncourt, Eintrag vom 26. September 1865).